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  • Thema von teuker im Forum Texte aller Art, Gedic...

    „Achtung an Gleis 3. Es hat Einfahrt der ICE 583 – Hamburg –München – Meran.“
    Der Mann betrachtete das kleine Mädchen, das an der Hand der Mutter fröhlich den Bahnsteig entlang hüpfte. Unbeschwert, wie es wohl nur Kinder wirklich sein können.
    Er kannte sie seit langem. Seit sie ihren ersten Schrei getan hatte. Er war dabei gewesen, als sie ihre ersten Schritte tat, hatte ihr erstes gesprochenes Wort gehört und beobachtet, wie sie – eine riesige Zuckertüte im Arm – ihren ersten Schultag meisterte. Ralf musste schmunzeln, als ihn die Erinnerungen einholten. Er musste daran denken, wie stolz Michelle war, als sie ihren ersten Zahn verloren hatte und seine Augen leuchteten bei dem Gedanken an ihr glockenhelles Lachen, das jeden, der es hörte, bezauberte.

    Mit kreischenden Bremsen fuhr der Zug in den Bahnhof ein und riss Ralf aus seinen Tagträumen. Immer noch an der Hand der Mutter stieg Michelle in den Zug ein. Ralf folgte ihnen und nahm im Nachbarabteil Platz. Von Nebenan konnte er das Gespräch von Mutter und Tochter belauschen.
    „Mama, warum fahren wir so weit weg?“
    „Michelle, das habe ich dir doch schon erklärt.“
    „Ich habe es aber nicht verstanden. Erzähl es mir doch noch einmal“, begann Michelle zu betteln.
    „Du erinnerst dich an Onkel Paul, nicht wahr?“
    „Ja, klar. Er hat mir immer Schokolade geschenkt, wenn er zu Besuch kam.“
    „Siehst du und Onkel Paul braucht unsere Hilfe. Der Arme hat sich das Bein gebrochen und er hat doch niemanden, der sich um ihn kümmert.“
    „Kann er jetzt gar nicht mehr laufen? Musst du ihn tragen?“
    „Nein, mein Schatz“, Ines musste lachen. „Tragen muss ich ihn nicht, aber ich muss für ihn kochen und waschen und putzen, eben Alles machen, was er nicht alleine schaffen kann.“
    „Darf ich auch mithelfen?“
    „Klar, du bist doch die ‚Stütze der Hausfrau‘! Ich zähle auf dich. Und Onkel Paul freut sich auf dich.“

    Ralf dachte an Onkel Paul und sein Blick verfinsterte sich. Nur zu genau erinnerte er sich daran, wie der „gute Onkel“ sich immer wieder an Michelle heran geschlichen hatte. Wie er sie auf seinen Schoß gezogen und sie liebkost hatte – mehr, als es sich für einen Onkel geziemte. Michelle hatte sich nichts dabei gedacht. Sie war ja noch ein ganz kleines Mädchen gewesen. Und Ralf hatte tatenlos zusehen müssen. Aber diesmal, ja diesmal würde er es zu verhindern wissen! Er würde nicht zulassen, dass der Kleinen ein Leid geschah und schon gar nicht von „Onkel Paul“. Ein verächtlicher Zug umspielte Ralfs Lippen. Nie wieder würde Onkel Paul das Kind in die schmutzigen Finger bekommen, dafür würde er sorgen! Er musste sich konzentrieren...

    Als der Zug in den Münchner Bahnhof einrollte, war Michelle längst nicht mehr so munter, wie sie es noch zu Beginn der Reise gewesen war. Müdigkeit hatte sie ergriffen und ihr Geplapper, zur Erleichterung ihrer Mutter, irgendwann zum Stillstand gebracht.
    „Mama, zieh doch nicht so!“, jammerte die Kleine, verzweifelt darum bemüht, mit der Mutter Schritt zu halten.
    „Entschuldige, Schatz. Ich bin wirklich unfair. Ich vergesse immer, dass du viel kürzere Beine hast als ich.“ In gemäßigtem Tempo setzten die Beiden ihren Weg zum Ausgang fort.
    „Mama, ich hab Hunger“, begann Michelle zu quengeln.
    „Wir sind bald bei Onkel Paul. Dann mache ich dir ein schönes Butterbrot, einverstanden?“
    „Butterbrot? Nein, ich mag Pommes!“ insistierte die Kleine.
    Seufzend gab ihre Mutter nach.

    Die Pommes frites schmeckten ranzig und Michelle hatte bald genug davon. „Mama, fahren wir jetzt zu Onkel Paul?“. Regelrecht weinerlich klang das Kind.
    „Ja, nur noch ein paar Stationen mit der U-Bahn und dann sind wir bald da.“ Michelle hatte die Nase voll von Bahnen aller Art, aber sie fügte sich in ihr Schicksal. Sogar ihre Neugier erwachte von Neuem: „Mama, kennst du dich gut aus in München? Warst du schon einmal hier?“
    Ein Schatten huschte über das Gesicht der Mutter. Heimweh vielleicht?
    „Ja, Schatz. Und du auch. Erinnerst du dich nicht mehr? Du warst noch ganz klein...“
    Michelle riss staunend Mund und Augen auf.
    „Iiiiiiich war schon einmal in München? Das ist aufregend! Was haben wir hier gemacht?“
    „Wir haben hier gewohnt und dann habe ich diese Stelle in Hamburg bekommen und wir sind weggezogen.“
    „Dann komme ich jetzt also nach Hause? Das ist toll, Mama!“
    Ines war blass geworden. Für einen Moment schien es, als sei sie der Ohnmacht nahe. Mit einem Schlag war alles wieder da! „Mein Gott“, stammelte sie. „Nein, das ist nicht wahr!“
    Sie sah sich selbst. Ein kleines Mädchen, auf dem Schoß eines Mannes. Sie sah Hände, die nach ihr grabschten. Sie sah einen Mund, der auf sie zukam, um sie zu küssen. Sie hörte diese Stimme wieder, die beschwichtigend auf sie einredete. War das die Stimme von ...? Sie musste Gewissheit haben. Jetzt!!
    Hektisch und mit zitternden Händen kramte sie das Handy aus ihrer Handtasche. Die Nummer hatte sie vorher unzählige Male gewählt und so brauchte es nun nur einen Tastendruck, um die Verbindung herzustellen. „Onkel Paul?“ Sie schrie fast ins Telefon. Menschen wandten sich nach ihr um. Verständnislos. Sie lauschte nur einen kurzen Moment, bevor sie das Telefon von sich schleuderte, als würde sie versuchen, sich glühender Kohlen zu entledigen, die sich in ihre Handflächen brannten. Tränen schossen aus ihren Augen.
    „Mama!“, Michelle hatte zu Weinen begonnen. Noch nie hatte sie ihre Mutter so aufgebracht, so traurig, so verzweifelt gesehen. Um Fassung ringend, ergriff Ines ihre Hand. „Schatz, das kann ich dir jetzt nicht erklären. Ich weiß, dass du dich freust, in München zu sein, aber wir können nicht bleiben. Wir fahren zurück.“ Michelle wagte nicht, aufzubegehren. Sie war verwirrt, verstand nicht was vorging. Widerstandslos folgte sie Ines zum Fahrkartenschalter.

    Der Mann betrachtete das kleine Mädchen, das – nun müde geworden – an der Hand der Mutter den Bahnsteig entlang stolperte.

    „Genau so hatte ich mir das gedacht“. Zufrieden lächelnd und erleichtert bestieg Ralf den Zug. Pleite wie er war, konnte er sich nun nur noch über eines freuen: Engel brauchen keinen Fahrschein.

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