Was man vom Elswhere Park wußte, war ein geflüstertes Geheimnis, und es schienen nur wenige ausgewählte Menschen von diesem Park zu wissen. Überhaupt, dass es etwas geheimnisvolles daran gab.
Einer von diesen Auserwählten war Thomas Briggs. Er war vierzig Jahre alt und lebte allein in einer Zweizimmerwohnung am Stadtrand. In einem heruntergekommen Viertel, für dass die Stadtverwaltung Fördermittel weder aufbringen konnte oder wollte.
Thomas Briggs wußte kaum, was er unter Tags machte. Und ihm schien, dass der Winter schon Jahre dauerte. Was er mit Sicherheit wußte war, dass er die stille Melancholie ausgedehnter Spaziergänge am Abend mochte. Während dieser Spaziergänge erinnerte er sich an die Tasse mit heißem Tee und Rum, die er immer trank, bevor er losging.
Er trug immer die gleiche Kleidung: Orangefarbener Anorak, dunkelblaue Levis, geschnürte Dockers, eine Strickhaube und darüber die Kapuze des Anoraks. Er erinnerte sich, dass er seine Spaziergänge in diesem Park wohl irgendwann einmal im Frühling oder Sommer begonnen haben musste, als er ihn zu seinem neuen Jagdrevier machte und dort nach schnellen und unverbindlichen Abenteuern Ausschau zu halten.
Seitdem waren nicht nur die Jahre vergangen, sondern auch die Jahreszeiten. Irgendwann, vor fünf Jahren vielleicht, war es Winter geworden im Elswhere Park. Und das hatte sich bis jetzt nicht mehr geändert. Hatte er je andere Menschen in diesem Park gesehen? Hatte er ihnen je zu genickt oder ein „Hallo“ gemurmelt? Er wußte es nicht. Wenn er stehen blieb und sich umdrehte, sah er immer nur seine Spuren im frischen Schnee, die sich in der Ferne und dem milchigen Nebel verloren. Und manchmal sah er Schemen – weit weg. Im Licht eines Kandelavers oder am anderen Ufer des zugefrorenen Teichs. Ein unmerkliches Nicken da, gedankenverlorenes Schweigen hier, doch nie Verbindlichkeiten. Einsame Spaziergänger, so wie er.
Für Thomas war der Winter eine gute Zeit. Es war still, selbst die Kälte verströmte eine Form von Ruhe, die er sonst zu keiner Jahreszeit fand. Im Winter hatte er die Liebe seines Lebens kennengelernt, Kiki, den arabischen Schlagzeuger einer Berliner Death Metal Band. Es war schon abgedreht genug, dass Kiki Schlagzeug spielte. Dass er Moslem war und Schlagzeug spielte, in einer deutschen Death Metal Band. Und als Draufgabe hatte sich der wankelmütige und trotzige Junge in einen Mann verliebt.
Thomas hatte in jenem Winter bei Tee und Kuscheln immer gesagt: „Die Mischung machts Kiki. Die Mischung. Wie beim Tee.“
Später hatte Kiki Spaß am Kiffen gefunden. Und am Trinken. Das hielt sich jedoch in Grenzen. Der Zwanzigjährige konnte Maß halten und verteilte seine Energie wohldosiert zwischen den Stationen seines Lebens: Die Liebe zu seinen Eltern, die sich verzweifelt bemühten, den westlichen Lebensstil zu verstehen, seiner Band, die ihn von einem Rausch in den nächsten trieb, seiner Liebe zum High sein und seiner Liebe zu Thomas Briggs.
Kiki war ein Energiebündel. Und ein Jahr später, im Winter vor zwölf Jahren Jahren, war er tot. Kiki war mit dem Moped von einer Probe heimgefahren. Weder bekifft, noch betrunken – was für ein Jammer für gewisse Journalisten. Er wollte einen Bahnübergang überqueren, war zu schräg aufgefahren und war gestürzt. Die Warnblinkanlage des Übergangs war defekt und der frische Schnee hatte alle Geräusche gedämpft. Kiki war zu benommen vom Schmerz in seinem rechten Knie, um schnell zu reagieren.
Thomas erfuhr am nächsten Tag aus der Zeitung, dass der einundzwanzigjährige Karim Matuui vom Zug überrollt worden war.
Sein Leben glich von diesem Tag an einem dunklen Fluss. Ohne Stromschnellen, ohne Blitze, Donner und Drama.
Bis er vor fünf Jahren diesen Park hier entdeckt hatte. Und wo er seitdem jeden Abend spazieren ging. Sein Leben vor und nach dem Spaziergang war schal. Er glaubte, sich an eine Altbauwohnung zu erinnern, an einen Job, der ihm zwar das Leben ermöglichte, aber weder mit Stolz oder Freude erfüllte. Tatsächlich – und dieser Gedanke kam ihm immer wieder, wenn er im Park spazierenging – war leise Melancholie das deutlichste Gefühl in seinem Leben, untrennbar mit dem Elswhere Park verbunden.
Wer hatte ihm von diesem Park erzählt? Oder hatte er eines nachts davon geträumt? Thomas wußte es nicht, und wenn er sich ehrlich war, interessierte es ihn auch nicht sonderlich.
Der stille Kummer seines Lebens konzentrierte sich hier. Er umrundete langsam den zugefrorenen Teich. Und hier waren die dünnen, langen Finger der Trauerweide – wie passend. Alte Nussbäume griffen sehnsüchtig in den dichten Nebel; die Kandelaver gingen an und warfen kleine, gelbe Lichtinseln in den Schnee.
Nur seine Spuren hier, nur seine. Es hatte vielleicht zwei oder drei Grad Celsius unter Null. Dennoch schien die Luft würzig zu sein, erfüllt von einem Geruch, oder weniger, der Erinnerung an einen Geruch. Nach Tee, vielleicht? Oder Zimtgebäck? Lebkuchen? Er dachte: Es wird wohl bald Weihnachten sein. Sicher war er sich nicht. Ihm beschlich das Gefühl, dass er heute nicht allein im Park war. Nicht wie sonst, getrennt durch Zeit und Raum und Nebel von den anderen einsamen Gestalten. Etwas war ihm nahe, sehr nahe. Und suchte Kontakt zu ihm. Thomas blieb stehen und wandte sich um. Verwirrt stellte er fest, dass er im Schnee auf dem Weg, den er zurückgelegt hatte, nicht einmal seine eigenen Fußspuren sehen konnte.
Es war hell, sehr hell, blendend weiß. Aus der Richtung, in die er gegangen war, und der er jetzt den Rücken zuwandte, hörte er ein leises Hüsteln. Und noch bevor er sich umdrehte, hörte er: „Hallo Thomas. Was meinst Du? Wird´s nicht schön langsam Zeit, dass Du kommst?“
Thomas kannte die Stimme und spürte erstmals seit Jahren durch den Schleier der Melancholie das Brennen echter Trauer. Er kannte den heiseren Singsang des jungen Tunesiers. Aber das war selbstverständlich unmöglich; sein Verstand spielte ihm einen Streich.
Er wandte sich um, die Hände in den Taschen und starrte die junge Gestalt vor sich an. Sein Emo Kid. Karim, Kiki. Alles da: Der Nasenring links, die langen, glatten Haare, die ihm rechts ins Gesicht fielen, die ausrasierte Augenbraue, die Piercings in der Unterlippe. Der schwarze Anorak, die überweite schwarze Hose. Die Doc Martens, deren Schnurbänder ein verhedderndes Eigenleben führten.
„Kiki?“
„Ja?“
„Du kannst nicht hier sein. Du bist tot.“
„Bin ich Thomas. Bin ich. Tot und gegangen. Und da ist auch der Unterschied…“
„Ich habe dich geliebt, weißt Du das? Ich habe Dich geliebt, und eines Tages warst Du tot und ich war noch immer hier. Ich hab geheult und ich hab Dich verflucht; verdammt! Wie konntest Du nur diesen dämlichen Zug übersehen… was mach ich hier eigentlich? Dreh ich durch? Ich red mit einem Toten – wenn das nicht irre ist, dann…“
„Ist es nicht. Komm mit. Da ist etwas, dass Du noch nicht weißt.“
Kiki küsste ihn auf die Wange, hakte sich unter und machte scherzhaft einen Ruck: „Gehen wir.“
Und dann gingen sie auf dem Pfad am Teichufer entlang.
Thomas war bereit, an Wunder zu glauben, an alles zu glauben, auch an Gott oder Jehova oder Allah. Wenn Kiki nur hier bei ihm bliebe. Die Melancholie des Parks mit Liebe vertreiben. Ewig hier gehen, mit der Zeit der ganzen Welt. Mit dem Duft von Kikis Haaren, seiner Haut. Thomas erinnerte sich an die ersten Nächte, die sie gemeinsam verbracht hatten. Beide eingeschüchtert von der Wucht der Gefühle, nicht in der Lage, sie in Sex zu verwandeln. Nur kuscheln, küssen, Teegebäck knabbern und Tee trinken, hin und wieder kiffen und kichern, beinahe hysterisch. In der abrissreifen Bleibe von Kiki am Prenzlauer Berg. Graffitiübersähte Wände und Stiegenhäuser – Kikis leere Wohnung unter dem Dach, erfüllt vom Duft nach Tee… soviel Tee hatte er noch nie getrunken.
Thomas sehnte sich nach einem Kuss und einer heißen Tasse Tee. Und wenn er ehrlich zu sich war, sehnte er sich nach Kikis nackten, drängenden Körper, den rasierten Achseln, dem flinken, geilen Lächeln. Er sehnte sich nach Liebe, die er viel zu kurz gehabt, und verloren hatte.
Kiki zog Thomas näher zu sich und flüsterte lächelnd: „Ich hätte Dir nie soviel Melodramatik zugetraut, Tom. Niemals. Aber das mit dem Messer, das war ein Hammer, echt.“
„Messer? Was für einem Messer? Was meinst Du?“
Kiki stellte sich vor ihm hin und fragte: „Du erinnerst Dich wirklich an nichts? Wie lange gehst Du schon in diesem Park spazieren?“
Thomas zuckte die Schultern. Wie die Zeit messen, wenn immer Winter war?
„Fünf Jahre? Vielleicht?“
Kiki nickte und sagte: „Ja. Fünf Jahre. Und Du weißt nicht, was Du in der Küche Deiner Wohnung vor fünf Jahren getan hast?“
Thomas schüttelte den Kopf, war sich aber plötzlich sicher, dass es wichtig für ihn war, genau das zu wissen. Dass er es Vielleicht sogar wusste, nur irgendwo im Schnee des Elswhere Parks vergraben hatte. Thomas hatte einen Kloß im Hals: „Ich weiß es nicht mehr. Aber ich glaube, ich weiß, wo ich es im Park vergraben habe.“ Kiki nickte und lächelte strahlend: „Dann lass uns dort hin gehen. Und es ausgraben. Du mußt es nämlich wissen, anders geht es nicht.“
„Warum, Kiki, warum?“
„Kannst Du Dich an mein Versprechen erinnern? Als wir soviel Tee getrunken hatten? Im Januar in meiner Wohnung, nach zwei Joints. Du hattest noch Papers besorgt und…“
Thomas flüsterte: „Ja. Ich erinnere mich. Deshalb hab ich mein Leben vor fünf Jahren hier im Park vergraben.“
Kiki lächelte unbestimmt: „Nicht im Park, nicht im Park, Tom. In Deiner Küche. Der Park kam später.“
Sie gingen eng aneinandergekuschelt den Weg entlang, bis sie zu einer Stelle kamen, an der sich zwei alte schwarze Bäume weit über das Eis des Teichs beugten.
„Hier.“
Thomas nickte: „Ich glaube. Ja, ich glaube…“
Er löste sich sanft aus Kikis Umarmung und begann, mit bloßen Händen im Schnee zu buddeln. Eine Erinnerung tauchte auf. Er sah zu Kiki hoch, der ihm aufmunternd zulächelte.
„Ich kam von der Arbeit heim. Ich ging in die Küche um mir eine Scheibe Brot abzuschneiden…“
„Gut, weiter!“
„Ich wollte das Brot mit Wurst und Käse belegen, dann ein Bier nehmen und vor dem Fernseher rumgammeln und… ich hab mich in den Finger geschnitten, echt bös, tat weh und blutete wie Sau.“
Thomas wandte sich ab und grub weiter, bis er mit den steifen Fingern auf etwas glattes, hartes stieß. Er befreite es vom Schnee und hob es hoch. Es war eine Zigarrenschachtel. Für Kohibas. Thomas erinnerte sich, dass diese Schachtel Kiki gehört hatte. Darin hatte er sein Gras gebunkert.
Er machte die Schachtel auf und fand darin ein Farbfoto. Er betrachtete es lange. Dann sah er zu Kiki, zu bestürzt, um den Gedanken in Worte zu verwandeln. Er setzte mehrmals an und brach ab. Dann brachte er die Frage ohne Punkt und Komma heraus: „Das hab ich getan ich hab mich hab ich mich?“
„Du hast. Weißt Du noch warum?“
Thomas starrte tief in das schwarze Loch, dass sein Leben war: „Du hast Dich einmal geschnitten. Und ich hab Dein Blut vom Finger geleckt. Und als ich mich damals vor fünf Jahren, also als ich mich geschnitten hatte, dachte ich, ich verliere das Letzte, was mir von Dir blieb. Ich dachte, mein Körper kann sich an Dein Blut erinnern. Und als ich mein Blut da sah, wie es auf den Boden tropfte, da dachte ich, jetzt verliere ich Dich ganz. Und das konnte ich nicht ertragen. Das konnte ich nicht!“
Kiki lächelte zufrieden, tippte mit dem Finger (Und Thomas war sich sicher, dass es der Finger war, in den sich Kiki damals geschnitten hatte) auf das Foto in Thomas Hand und sagte leise: „Dann hast Du das getan.“ Auf dem Bild sah man einen jungen Mann. Er lag rücklinks auf dem Kachelboden einer Einbauküche. Er hatte ein Messer in der Brust, dessen Griff er mit beiden Händen umklammerte. Thomas wußte, dass er das war. Der Tote auf dem Bild war er.
Kiki hakte sich wieder bei ihm ein. Zog ihn weiter. Thomas brauchte fast eine Runde um den Teich, bis er es wagte, die Frage zu stellen: „Ich bin tot, ja?“
„Nein. Du kannst nicht loslassen. Du liegst im Koma. Du bist irgendwie tot, aber noch nicht gegangen. Dass ist der Unterschied, den ich vorhin erwähnte, Tom. Und ich bin hier, um Dir zu helfen.“
„Helfen?“
„Ja. Dich zu begleiten.“
Thomas blieb aprupt stehen, atmete stoßweise: „Der Park ist alles, was ich noch habe, hier kenne ich mich aus, er ist mir vetraut. Ich habe sonst nichts…“
Kiki sah ihn traurig an und antwortete: „Du hast mich. Ich bin das Herz dieses Parks, der Grund, warum Du hier bist. Und es wird Zeit, dass Du ganz zu mir kommst…“
„Ich habe Angst. Scheißangst. Was ist, wenn ich mit Dir gehe? Wohin gehen wir?“
Kiki lächelte bezaubernd, ein Lächeln voll verschwenderischer Liebe: „Dann sind wir zusammen. Für immer. So wie ich es Dir damals geschworen hatte. Das war mein Schwur. Und nun möchte ich ihn endlich einlösen. Die da drüben meinen, Du warst lange genug hier im Zwielicht. Komm jetzt Thomas. Es wird Zeit zu gehen.“
Thomas roch Kiki, spürte seine Wärme. Und er hörte die unverbrüchliche Aufrichtigkeit seiner Worte; er trank sie. Aber es war so schwer, zu gehen. Im Park wurde es heller und wärmer. Er hörte das Gluckern von glitzernden Tropfen, die von Bäumen fielen. Wurde es Frühling?
Kiki schüttelte den Kopf: „Es wird Sommer. Im Herzen und im Universum. Es wird Bach und Wiese, blauer Himmel und viele Küsse. Es wird Klarheit und Glück. Kommst Du, Tom, kommst Du?“
Thomas nickte. Der Nebel lichtete sich. Er konnte weiter sehen. Und noch weiter. Hinter den Bäumen des Parks zeichneten sich weite Wiesen und Hügel ab. Grüne Wiesen, ein blauer Himmel. Und ein Gefühl von umfassender Freude, die jener Freude glich, die man empfindet, wenn man sich der ersten wahren Liebe bewusst wurde.
Dann sagte er es: „Gehen wir? Gehen wir, Kiki, lass uns gehen. Mir ist kalt. Mir ist echt scheißkalt.“
Kiki lächelte. Er hakte sich bei Thomas ein und küsste ihn aufs Ohr, knabberte am Ohrläppchen und flüsterte mit feuchter Hitze: „Dann will ich Dich wärmen. Ich habe lange auf Dich gewartet.“ Thomas lächelte berührt und glücklich. Sie gingen auf den Ausgang des Parks zu. Und hinter ihnen verwandelte sich der Elswhere Park in ein Krankenbett, über dem gerade eine Schwester im Beisein eines Arztes die flache Linie auf dem Monitor betrachtete. Er sagte etwas vonwegen Todeszeitpunkt zu ihr, während Thomas und Kiki in einem Lichtgestöber verschwanden. An der Grenze zwischen Elswhere Park und dem, was ewig ist.
[ Editiert von peter nathschlaeger am 24.10.06 7:41 ]