Dass irgendetwas nicht stimmte kriegte ich mit als ich die Flugzeuge sah. Flugzeuge, die vom Süden her Richtung Norden flogen und später, nach etwas drei Stunden eine nächste Welle von Westen nach Osten. Nicht irgendwelche Maschinen; keine Militärmaschinen. Passagierflugzeuge. Sie dröhnten über den Himmel und hinterließen ihre weißen Kratzspuren. Eben war es noch still. Ich spazierte über die weiten Schneefelder auf den Baikalsee zu. Ich hatte die Jeep zurückgelassen um so, wie mein Romanheld, die letzten Kilometer zum See zu Fuß zurückzulegen. Ich wollte endlich sehen, wo ich meinen Helden sterben ließ. Es ist wohl ein Unterschied ob man sich die Landschaften auf der Landkarte zusammensucht oder ob man wirklich dort ist. Nun, das Buch wurde gedruckt, kam raus und verkaufte sich nicht schlecht. Nicht, dass ich davon leben könnte, aber es kommt doch auch was rein. Und nachdem ich so viele Mails bekommen habe, Briefe von Lesern, ob denn die Strecke, die mein Held im Buch zurücklegt auch wirklich machbar sei, habe ich mich entschlossen, drei Wochen Urlaub zu nutzen und nach Sibirien zu fahren und so was wie ein Reisetagebuch zu schreiben. „In Dimitrij´s Schuhen“ soll es heißen. So nach dem Motto: Der Autor besucht die Handlungsorte seines Romans. Mein Verleger meinte auch das wäre eine gute Idee und ließe sich womöglich auch vermarkten. Besser als eine weitere Woche im selbstgefälligen Suff. Der Koks staubte mir schon zu den Ohren raus, da war etwas Tapetenwechsel echt nicht die schlechteste Option. In meinem Buch hatte ich Dimitrij Vengarov, den sibirischen Jungen, nach seinem Drama in Sankt Petersburg zurück nach Sibirien geschickt wo er eigentlich herkam. Mein Hauptheld Dimitrij stammte aus Chita in Sibirien. Den Weg zurück legte er zum Teil per Autostopp, mit einem gestohlenen Wagen und zu Fuß zurück. Wie auch immer, diesen letzten Teil seiner Reise wollte ich jetzt am eigenen Leib spüren und spazierte von Talowka Krestowaja –das es tatsächlich gibt- Richtung Osten. Und ich war fast zu Tränen gerührt als ich sah, dass meine Fantasie ein recht realistisches Bild der Umgebung entworfen hatte. Aus der Ortschaft raus führte ein Weg über weite, vereiste Felder etwas bergan. Oben auf der Hügelkuppe gab es eine lichte Reihe von Birkenwäldchen. Und wenn mich nicht alles täuschte, musste man von der Hügelkuppe aus einen grandiosen Blick auf den von Bergen umfassten Baikalsee haben. Der See, auf dem mein Held rausgeht um in den Himmel zu fahren. Und zwar in Dolby Digital und Cinemascope. Und als ich den Weg auf die Hügelkuppe zu zwei Drittel hinter mich gebracht hatte, hörte ich das Dröhnen und Röhren und Knattern. Es war etwa 06:45 Uhr, es war Oktober und der Tag schälte sich malvenfarben und blassrosa aus dem sibirischen graublau der nächtlichen Schneefelder. Das Land erschien mir schon hier so unermesslich groß, so endlos majestätisch und edel. Ich wollte es nicht durch die verklärende Brille des Westtouristen sehen der weiß, dass er jederzeit wieder abhauen kann, falls es doch nicht behaglich ist. Und um mir wenigstens den Anschein von Authentizität zu geben, ging ich die letzten acht Kilometer zu Fuß. Manche der Passagiermaschinen flogen so tief, dass ich meinte zu spüren wie der Boden vibrierte. Ich sah Boeings und Airbusse und Fokker, ich sah DC-10 und DC-9 Maschinen, American Airlines, Austrian Airlines, Lufthansa und Iberia, Flugzeuge aller Arten und von allen Fluglinien. Und alle dröhnten sie auf unterschiedlichsten Höhen über die eisbedeckten Felder. Ich schätze es waren ungefähr achtzig bis hundert Flieger in den ersten fünfzehn Minuten. Dann kehrte schlagartig wieder Ruhe ein. Ich blieb stehen, noch etwa drei Kilometer von der Hügelkuppe entfernt und rauchte mir eine an. Ich versuchte mir einen Reim aus all dem zu machen. Ich meine: hey… Ich habe hier in diesem Teil Sibiriens gerade mal in einer Woche zwei Flugzeuge gesehen. Und jetzt, da plötzlich… zig Maschinen am Himmel, scheinbar befreit von allen Arten der Luftraumkontrolle. Wie ein Schwarm von hysterischen Zugvögeln. Das Licht des Morgens bekam immer mehr Substanz, wurde echter und zudringlicher. Ich schnippte den Zigarettenstummel in das jungfräuliche weiß und ging weiter. Macht nichts Piero, macht nichts… geh einfach nur weiter. Schritt für Schritt, Meter für Meter und bald, ja… bald… du wirst sehen, bist du oben und siehst auf das gigantische Panorama vor dir. Das gefrorene Auge Gottes in all seiner Pracht… und weißt Du was? Vielleicht, aber wirklich nur vielleicht spürst du ein Echo deiner Erregung, all deiner Liebe und Lust und Leidenschaft, all deiner Trauer, die du empfunden hast als du seinen Tod beschrieben hast, wenn du an den Gestaden dieses riesigen Sees inmitten der verschneiten Berge stehst… Geh nur, Piero. Geh nur. Geh in Dimitrijs Schuhen. Mach voran… ja, noch fünfhundert Meter, dann hast du es fast… ja, siehst du? Jetzt… noch zwischen den zwei Birkenwäldchen hindurch und dann… Und dann kamen die Flugzeuge aus dem Westen. Hunderte Verkehrsflugzeuge aller Bauarten und aller Fluggesellschaften. Manche kilometerhoch in der Luft, andere hätte ich anspucken können. Sie dröhnten, heulten, knatterten und sausten über mich hinweg bis meine Ohren taub wurden. Ich dachte noch: Das schreibe ich auf jeden Fall in meinen Reisebericht. Das ist mal amtlich. Ich ging weiter, kam durch das Birkenwäldchen und ging nochmals hundert Meter weiter und dann sah ich ihn. Er glitzerte wie ein Juwel. Er war eingerahmt von pastellfarbenem Morgenlicht. Und das Licht ergoss sich golden über die Bergkuppen und schroffen Felsen hinab zu den kilometerbreiten Ausläufern die sanft zum See hin abfielen. Ich bekam die Gänsehaut. Und das nicht nur weil es schweinekalt war. Hier hatte ich Dimitrij auf Gott treffen lassen. Und hier hatte ich ihn auf seine letzte Reise geschickt. Ich weiß noch das ich weinte, als ich schrieb wie er auf das Eis rausging und lächelte und die Stimmen seiner Ahnen hörte und seine Hände hob und lachte und lachte und so sehr lachte weil nun alles Leid von ihm abfiel wie ein Schatten abfällt wenn das große Licht kommt. Alles um mich herum war still. Alles war in diesem Licht des Morgens überdeutlich und doch mild. Es war kalt aber trocken. Mich fror und doch war ich zutiefst dankbar in diesen Sekunden. Ich empfand es als Gnade dies hier zu sehen. Raus aus der Nachtlokalszene, dem Umfeld der Schriftstellerzirkel und leidenschaftlich kritischen Lesern. Weg von den Schleimern und weg von Cola Bacardi und Koks auf dunstig warmen Scheißhäusern. Weg von all den Fragen. Ich war in diesem Augenblick von Antworten umfasst wie Walt Whitman von allem, was er liebte umfasst war. Whitman besang den elektrischen Leib. Und ich besang hier und jetzt die lavendel- und malvenfarbenen Antworten des sibirischen Morgens. Traurig nur, dass ich niemals mehr irgendwem davon berichten kann. Nicht, weil ich selbst hier in Gefahr geriet. Sondern weil es niemand mehr gibt, dem ich davon berichten kann. Ihr werdet Euch fragen: Warum schreibst du dann das alle auf? Für wen protokollierst du das alles? Und ich werde euch sagen: Für mich, Freunde. Nur für mich. Ihr werdet mich fragen: Aber was ist denn passiert, Piero? Sag es uns doch. Lass dir doch nicht so die Würmer aus der Nase ziehen. Und ich werde euch antworten: Ich weiß es nicht genau. Aber lasst mich einfach weitererzählen.
Jaja, erzähl du nur weiter.
Ich führte Selbstgespräche während ich auf der flach abfallenden Straße zwischen den Eisfeldern zum See ging. Das machte ich öfters. Ich holte den Flachmann aus den Untiefen mies Daunenanoraks, schraubte ihn auf und fand, dass 07:00 Morgens eine gute Stunde für Schnaps sei. Echt gut. Dann sah ich in den Himmel. Und das war gar nicht gt. Zuerst erschien es mir nur wie ein Lichtreflex, den man am äußersten Rand der Wahrnehmung mitkriegt; die Sternschnuppe, die man verpasst hat. Dann sah ich genauer hin und erstarrte: Lichtwellen rollten über den Himmel. Keine Wolken, die das Licht reflektierten sondern monströse Wellen aus purem, flimmerndem und flackerndem Licht das scheinbar direkt aus dem Kosmos auf die Welt herabstürzte. Lichtkaskaden! Leuchtende Bögen, grellweiße Zeitlupenblitze. Sie zuckten von Osten nach Westen und von Norden nach Süden. Der Geräuschlose Spuk dauerte etwa sieben Minuten. Dann war alles vorbei. Dann war wirklich alles vorbei. Aber das wusste ich noch nicht. Ich hatte Herzklopfen und der Schweiß klebte feucht auf meiner Stirn, ich hatte Angst. Und ich war irgendwie zutiefst erschüttert. Vor allem weil ich die gigantische Lichtshow am Morgenhimmel Sibiriens mit der Todesszene assoziierte, die ich für Dimitrij erdacht hatte. Ich dachte: Kann denn das Zufall sein? Aber damit war es noch nicht genug der Zufälle. Ich ging weiter und weiter und sah dort bei den Uferfelsen zwei vermummte Gestalten sitzen. Sie saßen an einem hell lodernden Lagerfeuer. Ich dachte noch: Die Idee ist gut. Mir ist eh saukalt. Vielleicht sind da ja mal nette Leute und laden mich ein bei ihnen zu sitzen. Wir einsamen Wanderer in den frühen Morgenstunden müssen doch zusammenhalten, nicht? Ich kam näher und näher und sie hörten wohl meine knirschenden Schritte im gefrorenen Schnee. Sie drehten sich zu mir um. Es waren Jungs. Oder sehr junge Männer. Sie hatten nicht das typisch hart asiatische Antlitz, der Ostsibirier. Sie stammten sicher nicht von den Dekabristen ab oder den chinesischen Volksstämmen. Sie sahen sehr kaukasisch aus. Aug sehr schöne, fast anmutige Weise. Ich nickte ihnen freundlich zu und machte noch ein paar Schritte, wartete aber eine eindeutige Einladung ab. Der eine schob seine Kapuze zurück und seine schwarzen langen Haare glänzten im Morgenlicht. Er winkte mir, näherzukommen. Ich machte noch ein paar Schritte auf sie zu. Ich sah dem, der mir gewinkt hatte ins Gesicht und spürte einen Kloß im Hals. Werden hier Träume war? Er war schön. Er war unglaublich schön. Es gibt Menschen, deren Anblick erschüttert einen, egal welcher sexuellen Ausrichtung man zuspricht. Sie fassen tief in einen hinein. So wie dieser hier. Er lächelte schief und entblößte strahlend weiße Zähne. Oben links hatte er eine kleine Zahnlücke, aber das fand ich noch ansprechender. Er sah so aus wie der Dimitrij Vengarov, den ich in meinem Roman quer durch Russland schickte. Auf der Suche nach all dem was er braucht. Und er nach Hause zurückkehrt um es hier zu finden. Dieser junge Sibirier, vermutlich ein früher Eisfischer sah aus wie eine von mir erdachte Figur. Mir liefen die Tränen runter. Er sah mich erstaunt aber immer noch lächelnd an, klopfte symbolisch auf den Platz neben sich und zupfte die Decke, auf der er saß zurecht, so dass ich auch Platz hatte. Er deutete mit dem Daumen auf sich und sagte mit leiser und heiserer Stimme: „Dimitrij. Dima.“ Dann deutete er mit einem fragenden Lächeln auf mich. Der andere Bursche schob auch die Kapuze zurück. Er hatte eine Stoppelglatze. Ich wurde bleich. Mir wurde schlecht. Ich setzte mich neben Dimitrij auf die Decke und streckte die Hände nach dem Feuer aus. Ich deutete mit dem Kinn auf den glatzköpfigen Jungen und sagte: „Sergej?“ Der Junge mit den langen glänzenden Haaren sah mich verblüfft an und kicherte los. Dann nickte er und wiederholte die Geste von vorhin. Ich sagte: „Piero.“ Damit schien das Thema für sie erledigt zu sein. Dimitrij holte aus dem Rucksack der links von ihm lag eine Thermosflasche, schraubte sie auf und goss mir die Verschlusskappe mit duftendem Kakao voll. Er sprach schnell mit Sergej. Ein sibirischer Dialekt, irgendwie gurrend und sinnlich. Sergej lachte und rieb sich die Hände. „Gut gut. Trink nur, trink.“ Er umfasste mich, knuddelte mich und kuschelte sich an mich. Und all das mit der reinen Unschuld eines wilden Jungen. Sergej rutschte von der anderen Seite an mich ran, umarmte mich und so saßen wir zu dritt da: Ein drogensüchtiger Schriftsteller in der Mitte und zwei halbwüchsige sibirische Eisfischer die direkt aus dem Roman des koksenden Schriftstellers entsprungen waren. Scheiß drauf. Im Buch waren es Stricher. Aber um Details brauchte ich mich wohl im Moment nicht zu kümmern. Dimitrij flüsterte mit seiner heiseren Schlafzimmerstimme: „Gut allein. Sind allein. Jetzt Welt ist kaputt. Licht hat gebrannt und Fleisch… Fleisch ist verdorrt. Nur noch Staub… Radio sagt…“ „Was?“ Dimitrij kicherte und kramte ein kleines Transistorradio aus dem Rucksack. Er drehte es auf und suchte in all dem wirren Rauschen einen Sender. Er suchte zwei Minuten, drei Minuten lange herum bis er Sprachfetzen auffing. „Da… da!“ Mein russisch war sowieso für Arsch und Friedrich. Aber soviel verstand ich: Der Exodus der Verkehrsflugzeuge endete über dem Polarmeer. Die Flugzeuge stürzten ab. Alle. Alle Menschen verschwunden. Europa leergefegt. Dort wo das Licht einsinken konnte löschte es alles Leben aus. Die USA: leergefegt. Asien: leer. Mensch und Tier vom Licht vertilgt. Scheinbar gab es nur noch marginale Überlebenschancen in den Polargebieten. Wir waren hier am Baikalsee noch reichlich weit weg vom Polarkreis aber es hatte vielleicht mit der Reflektion des Schnees zu tun. Ich starrte ohne zu zwinkern auf den zugefrorenen See hinaus. Das Eis schillerte in den Farben des Himmels und der Berge. Das Radio in meinen Händen zischte und krachte und orakelte weiter vor sich hin. Als ich schließlich den Blick hob und mich umsah, saß ich allein da im Schnee. Kein Dimitrij, kein Sergej. Keine Decke unter mir Klar. Das Radio hatte ich im Anorak mitgebracht. Ich hatte keine Verschlusskappe mit Kakao in der Hand. Ich war allein. Und das Radio erzählte mir, von Krachen und Rauschen unterbrochen von Lichtwellen, die über die Welt gerast und gezuckt waren und alles Leben wegradiert hätten. Der Sender befand sich in Wladiwostok. Da war noch Leben. Da ging noch was. Ich stand auf. Ich zündete mir eine Zigarette an. Und dann schleuderte ich das Radio so weit ich nur konnte. Ich könnte zum Jeep zurückgehen. Aber wozu? Um wohin zu fahren? Ich könnte es meinem Romanhelden gleichtun. Und ich dachte so bei mir, dass dies wohl die eleganteste Option wäre. Ich hatte einen Notizblock bei mir und einen Druckbleistift. Ich könnte diese letzten Stunden aufschreiben, in den Plastikbeutel wickeln und als Testament hinterlassen. Ich könnte dann weiter hinausgehen auf dem Baikalseee. Nachts über diese Eiswüste gehen bis sich das Licht erbarmte und sich zu mir herabbeugte um mich an den Gestaden zurückzuführen. Ich hatte die einmalige Chance, Worte in Taten zu verwandeln. Ich sehnte mich nach Dimitrijs heiserem Lachen und dem Geschmack von heißem Kakao. Ich sehnte mich nach Sergejs Umarmung und all der animalischen Unschuld in diesen Berührungen. Herrgott ich wollte doch nur wieder unschuldig sein und mich hier reinwaschen. Und zu diesem Zweck auf den See hinauszugehen, schien mir der ehrenwerteste Weg. Also nahm ich ihn.
[f1][ Editiert von Nathschlaeger am: 27.11.2003 13:25 ][/f]