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Dieses Thema hat 0 Antworten
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 Texte aller Art, Gedichte, Lyrik, Kurzgeschichten, Altbeiträge
Jan Peter ( gelöscht )
Beiträge:

10.11.2003 23:25
RE: Beobachtung einer alten Dame Antworten

Beobachtung einer alten Dame


Ganz alleine sitzt sie da. In der Sommerhitze. Im Cafe-Geplauder eines Sommernachmittags.
Umringt von aufdringlich schwatzenden Menschen mit zu lauten Stimmen und der unangenehmen Angewohnheit, ihr weißes, schwitzendes Fleisch in viel zu leichter Sommerkleidung der Öffentlichkeit zu präsentieren.
Nicht so die alte Dame. Sie trägt ein einen simplen Zweiteiler, ihn als zeitlos zu bezeichnen wäre pure Schmeichelei. Blau und weiß gemustert. Aus einem Stoff, wie nur alte Frauen ihn tragen können. Ein knielanger Rock, und eine Bluse die von einer unauffälligen, goldenen Brosche zusammengehalten wird. Goldene Armbanduhr, goldener Ohrring. Klassisch, aber nicht protzig. Abgerundet wird das Bild, durch alte, braune Ledersandalen und einer dichten hautfarbenen Strumpfhose. Bei 30 Grad im Schatten.
Vor ihr steht ein Glas Wasser. Sie trinkt kaum. Sitzt einfach nur da, und schaut vor sich hin. Völlig unbeteiligt. Kein Gesprächpartner und kein sichtbares Interesse für die Menschen um sich herum. Sie beobachtet nicht, schaut sich nur gelegentlich um, wie jemand der darauf wartet, dass man ihn anspricht.
Ihre Haltung ist entspannt. Sie wirkt müde, ihre Schultern hängen leicht. Ihr Gesichtsausdruck wird geprägt von zwei großen Falten. Wie zwei traurig hängende Mundwinkel umrahmen sie ihre Augenpartie und verleihen ihrem Blick Ähnlichkeit mit dem eines zurückgelassenen Hundes an einer Autobahnraststätte.
Sie raucht. Keine Billigzigaretten aus dem Supermarkt und auch nicht jene langen, dünnen Zigaretten die nach Nichts schmecken und deren abenteuerliche Namen klingen, als könnte man sie nur vor der Kulisse eines malerischen Sonnenuntergangs, in einer kleinen Pariser Kneipe, bei Rotwein und Käse und in Gegenwart mindestens zweier expressionistischer Künstler genießen. Nein, nichts von Alledem. Die alte Dame raucht Marlboro. Die Marke der Bauarbeiter, Stammtischhelden und Möchtegern-Cowboys.
Die Zigarettenschachtel verstaut sie in einem schäbigen braunen Lederetui mit Druckknöpfen. Obwohl man ein solches Etui wohl eher einem verzottelten Späthippie zutrauen würde, passt es irgendwie zu ihr. Zumindest farblich. Exakt das gleiche Braun, wie das ihrer Schuhe. Vermutlich aus dem gleichen Tier gemacht.
Wenn man davon ausgeht, das vor allem in früheren Zeiten das Rauchen eine Angewohnheit war, mit der Frauen ihre Unabhängigkeit demonstrierten, muss sie wohl eine bewegteres Leben gehabt haben, als man ihr auf den ersten Blick zutrauen würde. Vielleicht raucht sie aber auch erst seit kurzem. Dann bliebe allerdings die Frage, was eine Frau über Sechzig dazu bringen könnte mit dem Rauchen anzufangen. Vielleicht die Marlboro Werbung. Lagerfeuer, offene Prärie und Cowboys mit braunen Lederetuis. Auch eine alte Frau hat das Recht auf sexuelle Phantasien.
Andererseits, wenn man das Tempo beachtet, mit der sie eine Zigarette nach der anderen in sich hineinsaugt, ist man wohl eher gehalten zu denken, dass sie schon länger dieser Sucht verfallen ist. Dann kommt man jedoch wieder auf jenes Szenario zurück, das ein Stück weiter oben schon einmal angerissen wurde. Man stelle sich vor, die fünfziger Jahre in einem kleinen Dorf irgendwo in Deutschland. Eine junge Frau raucht Marlboro. Was haben da die Nachbarn gedacht? Mit welchen Leuten hat diese Frau verkehrt? Bestimmt nicht mit den Jungs aus dem Kirchenverein. Auch die Pfadfinder rauchen im Allgemeinen eher nicht. Was bleibt da noch? Wohl nur die Halbstarken, die Motorradrocker, Schmalztollenträger, Lederjackenbesitzer, und James-Dean-Imitationen.
Mit solchen Leuten hat sich also diese Frau in ihrer Jugend abgegeben! Wieso sitzt sie dann hier, alleine? Hat sie es nicht geschafft, einen dieser jugendlichen Draufgänger für sich zu gewinnen, und mit ihm in den Hafen der Ehe einzulaufen? Oder ist eben genau dies passiert, und der junge Heißsporn ist bei einer Mutprobe mit seinem Auto über eine Klippe gestürzt? Aber warum trinkt sie dann Wasser, und nicht Whisky? Warum besäuft sie sich nicht gnadenlos, hier in diesem Straßencafe, in der Sommerhitze, zwischen all diesen langweiligen, nichtsahnenden Spießern? Gibt es hier kein Whisky? Vielleicht. Aber es gibt Bier. Der hässliche Kerl mit den geschmacklosen Bermudashorts und der desinteressierten Freundin, am Tisch gegenüber, trinkt jedenfalls gerade eines. Ein großes, kaltes, Pils. Vielleicht sollte ich mir auch eins bestellten? Nein, dafür ist es noch zu früh. Ich komme mir immer komisch vor, wenn ich vor Sonnenuntergang Alkohol trinke. Alkohol und Tageslicht, das sind zwei Dinge die für mich einfach nicht zusammenpassen. Nein, zum trinken muss es draußen dunkel sein. In der Dunkelheit fällt es auch nicht so auf, wenn man nach dem dritten Bier anfängt fremden Frauen auf die Brüste zu starren.
Aber kommen wir wieder auf die alte Dame zurück. Sie hat sich gerade bewegt. Irgendwoher hat sie eine Geldbörse hervorgeholt. Ich kann mir nicht erklären woher. Eine Handtasche trägt sie nicht bei sich und auch ihre Kleidung bietet keine Taschen, die groß genug wären für ein solches Ungetüm an Geldbeutel, wie jener mit dem sie da gerade hantiert. Er ist wahrlich riesig. Ein dicker unhandlicher Geldbeutel zum zusammenklappen, aus grauem Leinen mit einem Reißverschluss rundherum. Er sieht absolut nicht aus, wie der Geldbeutel einer alten Frau. Nein, alte Frauen haben solche Geldbeutel nicht. Solche Geldbeutel kaufen in Scheidung lebende Familienväter bei einer Geschäftsreise, auf einem Basar in Nord-Afrika oder einem überfüllten Marktplatz in Südost-Asien, und schenken sie ihrer pubertierenden Tochter zu Weihnachten. Diese findet ein solches Geschenk dann total bescheuert, den Geldbeutel hässlich und unmodern, fühlt sich von ihrem Vater unverstanden und weint die ganze Nacht. Und das zurecht. Solche Geldbeutel sind eine Plage. Sie sind nicht nur absolut unschick und komplett benutzerunfreundlich, sondern machen auch hässliche Beulen in der Hosentasche. Das ist der alten Frau aber offensichtlich egal. Sie zieht am Reißverschluss, klappt den Geldbeutel auf, kramt kurz in den Münzen herum, schließt dann den Geldbeutel und legt ihn auf den Tisch. Zuerst denke ich, sie möchte nun zahlen und gehen. Zu meiner Beruhigung macht sie jedoch keinerlei Anstalten den Ober an ihren Tisch zu rufen. Sie bleibt einfach weiter sitzen und schaut vor sich hin. Aber warum dann die Sache mit dem Geldbeutel? Hat sie nachgesehen ob sie sich das Glas Wasser überhaupt leisten kann? Unwahrscheinlich. Goldschmucktragende, Marlbororauchende alte Damen mit dicken Geldbeuteln haben im Allgemeinen eigentlich genug Geld für ein Glas Wasser, auch für ein Großes.
Der Kerl am Tisch gegenüber hat schon wieder ein neues Bier bestellt. Wieder ein, großes kaltes Pils. Sieht schon sehr verlockend aus, wie es das so steht. Goldgelb, kohlensäuresprudelnd, mit einer dicken Schaumkrone und kleinen Kondenswassertröpfchen an der Glasoberfläche. Lecker. Ich entschließe mich, meine Gewohnheiten kurzeitig zu vergessen und mir auch ein Bier zu bestellen. Ich rufe den Ober. Nachdem ich meine Bestellung abgegeben habe, zögere ich kurz und stelle dann doch jene Frage, die mir seit einigen Minuten auf der Seele brennt.
„Führen Sie hier auch Whisky?“
„Nein, leider nicht. Aber komisch, sie sind heute schon der zweite der nach Whisky fragt.“
Er runzelt die Stirn und meint
„Vielleicht sollte ich mal mit dem Chef reden...“
„Das sollten sie wohl. Darf ich vielleicht fragen, wer außer mir noch Whisky bestellen wollte?“
„Das war die alte Dame am Tisch dort drüben. Soll ich Ihnen nun Ihr Bier bringen?“
„Nein danke, ich möchte zahlen“
Ich begleiche die Rechnung und stehe auf. Auf dem Heimweg beschließe ich, nie wieder alte Frauen in einem Straßencafe zu beobachten.

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