Daniel stand am Fenster und hauchte Frostblumen an die Scheibe. Seine Haut war noch vom Duschen feucht und obwohl ihm fröstelte, zog er sich nicht den alten Bademantel an, der vor der Dusche auf dem Boden lag. Daniel stand nackt am Fenster und atmete langsam und bewusst. Mit seinen Fingern streichelte er die von der Kälte des Zimmers steifen Brustwarzen. Dann leckte er die Scheibe ab und grinste wie ein Kind, daß beim Naschen erwischt wurde. -Ist meine Spucke da am Fenster, das wird eine besonders schöne Blume- Daniel drehte sich um und sah gelangweilt auf das Teelicht, das sachte flackerte. Bis auf das Kerzenlicht war es dunkel in dem fast leeren Raum. Leise Klaviermusik perlte aus den Boxen -Debussys „Gärten im Regen“, wie passend. Daniel wusste, dass Leute Vorhänge zur Seite schoben oder zwischen den Lamellen von Jalousien durchblinzelten, wenn er sein Samstag abendliches Ritual vollzog. Anders als die meisten Jungs in seinem Alter wusste Daniel nicht nur, dass er schön war, sondern er setzte sein Wissen auch ein. Er war neunzehn Jahre alt und Balletttänzer in einem Jazzmusical. Und das war er nicht nur, weil er das Tanzen so liebte, sondern weil er es liebte, mit welch verzweifelter Gier ihn die Leute... die Männer anstarrten, wenn er auf der Bühne tanzte, wenn er verschwitzt zur Dusche ging, wenn er frisch duftend und lächelnd beim Bühnenportier vorbeihuschte und in der Dunkelheit verschwand. Und was er auf der Bühne nie zuende bringen konnte, setzte er hier in dieser großen, leeren und alten Wohnung fort. Die Spitze der Provokation, Brot für die Winterbettler, für die einsamen weißen Gesichter in der Dämmerung der Stadt. Die alte Wohnung umfasste ihn wie ein Lebewesen, wie ein Geschlechtsorgan, in der er ruht, Ruhe findet. Daniel schaffte es, selbst aus diesen alten, feuchten Wänden seinen Reiz zu ziehen - er streichelte seinen flachen Bauch und weiter runter, zwischen seine Schenkel. - Ich mach euch geil, ich werfe mich euch zum Fraß vor, eure Augen haben Zähne und eure Zähne bluten... Ich suhle mich in euren gierigen Blicken, ich salbe mich mit euren Tränen - ach Debussy, hast du das gewusst? Ich werde mich rausstehlen und durch die Nacht driften wie ein schwarzer Wind, ein Hauch der süchtig macht nach mehr, dass nie kommt. Daniel ging zum Rauchtisch - der Parkettboden knarrte unter seinen bloßen Schritten - und nahm sich eine Zigarette aus der Porzellanschale und zündete sie sich an der Flamme des Teelichts an. Dabei bückte er sich so, dass er mit dem Rücken zum Fenster stand. - Die alte Lady mit den zwei bunten Dackeln, eine verzweifelte Verehrerin... der Mann vom Taxifunk, der immer die Wochenendschicht schob und sich Bilder von minderjährige Burschen in Leder aus dem Internet zog. Daniel hatte ihn oft genug beim Wichsen beobachtet; der Trottel saß dabei immer so, dass das Licht des Monitors seinen halbnackten Körper anstrahlte. Und hin und wieder empfand Daniel so was wie irrationale Eifersucht auf die Bilder aus dem Internet. Ich bin aus Fleisch und Blut! Ich bin da! Ich bin wirklich da! Aber auch nur hinter einer Scheibe. Flach. Und inszeniert. Ich werde mich durch die Nacht fräsen wie ein durchdringender Schrei und meine Spur ziehen. Ich werde verletzen und geben und heilen und wehtun und mich hingeben... und ich werde für einen fremden Kerl meine Schenkel spreizen und mich ficken und vollspritzen lassen. Und wenn er gekommen ist werde ich mich umdrehen und gehen, abgehen, wie nach einem Solotanz von der Bühne. Jeder Fick mit mir ist wie eine perfekte Performance, mein Tanz, mein Rhythmus. Und der Mann wird mir nachsehen und sein Blick wird wehmütig sein, weil er weiß, dass er mich nicht halten kann, weil er weiß, dass mich nichts halten kann und am allerwenigsten ich selbst... Daniel klaubte seine Lederhose vom Boden und schlüpfte mit gezierten Bewegungen rein. Sie passte sich wie ein zweite Haut an, die im matten Licht der Kerze ein eigenes Leben führte; natürlich war er sich der Wirkung von Leder bewusst, dass im Zwielicht schimmerte... wie viele Zungen haben sie so glatt gemacht, dass die Blicke regelrecht darauf ausrutschen? Und wenn ihr noch keine Bettler seid, weil ihr es nicht wahrhaben wollt oder weil noch ein Quentchen Stolz in euch ist, macht nichts. Ich hol den Stolz aus euch raus wie euer Sperma, wie eure altersbedingte Keuschheit. Wo ich bin ist nur wenig Platz für Weisheit und tapfere Minen. Süßere Verderbnis als mich werdet ihr nie wieder antreffen. Daniel zog das Leder T-Shirt über und steckte es akkurat in die Hose. Dann angelte er den schwarzen langen Ledermantel von der Vorzimmerwand und setzte sich auf den Boden um sich die dicken, schwarzen Socken anzuziehen. Dabei achtete er immer penibel darauf, dass sein Profil von der Kerze schön ausgeleuchtet wurde. In der Küche sprang die Therme an und übertönte kurz die einsame Klaviermusik. Daniel empfand einen Hauch der Enttäuschung, weil die Perfektion des Moments von so etwas trivialem gestört wurde. -Vielleicht reiß ich mir heute einen ganz jungen Burschen auf, einen, der seine ersten, tapsigen Schritte in die Szene wagt. Dann verschlinge ich ihn mit Haut und Haaren und das was übrigbleibt, darf mich verzweifelt lieben und weinen. Nun, der Gedanke gefiel Daniel so gut, das sein Schwanz Blut kriegte. Normalerweise sind es die Blicke der Freier, der älteren Männer, die ihn nach Hause begleiten. Daniel geht nämlich immer allein nach Hause. Es sind diese Blicke der einsamen Männer, die ihre Chancen schon vor undenklichen Zeiten vertan haben: Die Chancen auf einen Freund, auf einen Lebensgefährten, auf bizarren Sex... die Blicke jener Männer, die die wichtigsten Momente ihres Lebens in einem Blinzeln versäumt hatten. Hier arbeitete Daniel mit fast chirurgischer Präzision. Er lockte, verführte und bot sich an. Vollmundige Versprechungen. Und dann der Bruch. Brüsk abwenden und gehen; hören, wie Sehnen quietschen und Herzen reißen; in Daniels Kopf klingt es wie das Schnalzen von reißendem Gummi; dann, wenn er sie stehen lässt und die Bühne verlässt, die seine Präsenz errichtet hatte. Ich bin eine Hure. Ich bin eine Lederhure voller Glanz und Versprechungen in fremden Sprachen. Ich bin feucht und glitschig. Ich bin geil. Ich bin fauliges Brot für die Zahnstummel der Winterbettler. Die sich hinter den Gardinen und Jalousien verstecken, in den dreckigsten Winkeln der Stadt oder den nobelsten Toiletten der Welt. Daniel ging zum großen Standspiegel und musterte sein Ebenbild. Blaue Augen, tief wie Bergseen, ein mädchenhaft hübsches Gesicht und kurze, pechschwarze Haare; ein paar Locken ringelten sich widerspenstig in die glatte Stirn. Dichte, schwarze Augenbrauen wie mit dem Lineal gezogen und lange gebogene Wimpern. Ein Gesicht, das angebetet wurde. Ein Blick voll wilder Unschuld und doch jugendlichem Sadismus, volle Lippen, die Zärtlichkeit versprechen und verrucht wirken können, wenn es sein soll... Daniel wandte sich ab und streichelte abermals seinen Körper. Diesmal über das hauteng anliegende Leder. Seine Brustwarzen waren winzige Hügelchen im schwarzen Glanz, der Gürtel war breit und knarrig... dann schlüpfte er in die Schnallenstiefel mit den hohen Gummisohlen und testete seinen Gang aus. Zweimal im Zimmer auf und ab. Noch mal zum Fenster, als Nachspeise für die Bewohner des Blocks, dann knarrten seine Schritte über den Parkett, das Leder knirschte und der Hauch seiner unfassbaren Persönlichkeit eilte voraus, die Treppen hinunter, durch den kalten Gang, raus auf minus 5 Grad; die richtige Temperatur für einen fickrigen Skorpion, dessen süßestes Gift seine matte Schwärze ist. Daniel trat ins Freie und schloss sachte die Haustür. Er schlug den Kragen hoch und sah auf die Uhr: Halb Eins. Bald würde der erste Nachtbus kommen. Und die Kids im ersten Nachtbus waren immer ein guter Anfang um sich auszutesten. Er schlug den Kragen des Mantels hoch und blies sich eine Strähne aus der Stirn. Und obwohl ihm eiskalt war, ging er langsam, geradezu bedächtig Richtung Busstation. Dort in der Ferne sah er ein paar Schatten um das Glimmen von Zigaretten stehen. Seine Statisten. Wie fein. Als ihn die Dunkelheit entgültig verschlang... oder er entgültig mit ihr verschmolz, schlossen sich Vorhänge und Jalousien klapperten, kaltes Essen wurde vom Tisch geschoben und Plastikblumen wurden abgestaubt. Die Winterbettler kehrten hungriger als zuvor zu ihren Routinen zurück und von einer der zahllosen Fensterscheiben troff Sperma; ein einsamer Mann wandte sich wieder seinem Computer zu, eine Frau weckte ihren Hund und erzählte ihm von der Kälte des Alters, ein nackter, sechzehnjähriger Junge sackte auf sein Bett und schlug die Hände vor die Augen ohne zu weinen. Und irgendwo, gerade in Hörnähe, kratzten gefrorene Zweige an einer Scheibe. Dann kam der Nachtbus. Und der Schlaf für die Winterbettler, für die Leute, die im Schlaf Sättigung erfuhren.