Jede Kleinstadt, jede Gemeinde auf der Welt hatte seinen Punk. Ob das nun ein Bursche mit rotgefärbten Haaren oder schwarzgefärbten Lippen war, ein Mädchen mit absichtlich zerrissenen Strümpfen und Sicherheitsnadeln in der Wange (Und aus Protest im Schambereich); es war eine unumstößliche Tatsache: Jede Kleinstadt, jede Gemeinde hatte seinen Punk, seinen Gruftie. Meistens ein Junge zwischen fünfzehn und 19 Jahren, ein wenig mehr revolutionär wie alle anderen, ein bißchen lauter, ein bißchen bunter oder schwärzer als alle anderen gekleidet. Sie waren in den seltensten Fällen dümmer als ihre Altersgenossen. Gar nicht. Nein, sogar im Gegenteil. Die kleinen Revoluzzer, die sich immer wieder gegen das Diktat der Elterngeneration erhoben, waren meisten blitzgescheite Jugendliche mit einem gewissen Hang zur lustvollen Selbstzerstörung. Diese Kids gibt es überall. Old Hanley, Iowa allerdings hatte mehr: Es hatte David Schmidt, den halbwüchsigen Gruftie und es hatte eine der größten Tragödien der Geschichte der Vereinigten Staaten. Eine verstörende, unheimliche Tragödie. Der letzte Akt der Tragödie fand am 27.02.2004 statt. Um 03:30 morgens. Wann die Tragödie angefangen hatte, konnte niemand sagen. Nicht alle großen Ereignisse werfen ihren Schatten voraus, darin waren sich die Leute einig. Nicht alle Ereignisse melden sich an. Keine Omen, nichts. Wenn es erst einmal passierte, war es zu spät, etwas zu tun, etwas zu ändern. Man konnte nur noch ohnmächtlig zusehen, wie die Ereignisse einen Landstrich überrollten und die Menschen in tiefster Trauer zurückließen. Nach dem 27.02 2004 zogen innerhalb von zwei Monaten fünfzig Familien aus Old Hanley weg. Meistens über Nacht, fluchtartig. Sie hinterließen keine Adressen, keine Kontaktmöglichkeiten. Im März waren die Straßen tot, es war unheimlich still. Es hatte bis Ende März Minusgrade. Die Menschen, die in Old Hanley blieben, fürchteten die Minusgrade seit diesem Februar. Auch die, die der Kälte nie ganz abgeneigt waren, weil es einfach angenehmer war, der Kälte zu trotzen als der Hitze, fürchteten nun die Temperaturen unter Null. Am schlimmsten war es, wenn das Thermometer auf minus vierzehn Grad viel. Das genügte für die, die geblieben waren, um in Tränen auszubrechen.
Old Hanley lag eingebettet zwischen sanften, bewaldeten Hügeln in einem flachen, länglichen Tal. Der Ort schmiegte sich in den westlichen Wald, am Rand der Umfahrungsstrasse. Jenseits der Hauptsstrasse gab es ein paar Läden, zwei Mechaniker und ein Stück weiter oben, am Waldrand, die Pension von Johan und Judith Pendergast. Das junge Ehepaar führte die Pension seit 2002. So wie die meisten anderen Dienstleister im Ort lebten auch sie von den Feriengästen aus Cedar Falls, Winterset oder Cedar Creek. Im Winter igelten sich die Einwohner ein und verbrachten den Winter in einer Art ländlichem Tiefschlaf. Old Hanley war im Winter wenig reizvoll; kahl, grau und erfüllt mit kaltem, scharfen Wind. Im Winter 2003/2004 lernte dieser Wind zu singen. Den schrecklichsten Klagegesang aller Zeiten.
Folgendes geschah:
Peter Rains hatte wenige Dogmen. Er hielt nichts von Dogmen. Aber ein paar hatte er. Zum Beispiel: Wenn etwas schief gehen kann, dann im Winter. Wenn etwas wirklich schief gehen kann, dann im Winter und mitten in der Nacht. Und wenn etwas völlig aus dem Ruder läuft, dann holen ihn die Deputies in einer eisigen Februarnacht aus dem Bett. Die blauroten Lichter huschten über die Decke. Draußen hörte er das Knacken und Rauschen von mehreren Funkgeräten. Stiefel knirschten im gefrorenen Schnee vor seiner Veranda. Peter strampelte sich aus dem Bettzeug, schlüpfte in die Hausschuhe und sah den großen Mann an, der im Licht der Diele stand. Brian Knox lehnte am Türstock und zitterte. Er hatte die Hände vor den Kopf geschlagen und wimmerte wie ein Kind. Vorhin hatte Peter Rains gesehen, dass der fast zwei Meter große Kerl grau im Gesicht war. Peter zog sich die Freizeituniform an: Jeans, dicke Wollsocken, Flanellhemd, Daunenjacke, Strickhaube. Er klipste sich den Sheriffstern auf den Anorak und ging ins Bad. Er putzte sich mit dem Finger die Zähne. Dabei sah er auf die rotblinkenden Ziffern der Weckuhr: 03:35. Daneben war die Anzeige des Außenthermometers: Minus 14 Grad. „Was ist eigentlich los? Was soll der Auflauf in meinem Garten? Zum Teufel, Brian, wie schaust du denn aus?“ Brian fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und keuchte wimmernd. „Wir müssen rauf zur Lichtung hinter Pendergasts Haus. Zum Fels mit dem Schild davor.“ „Mark´s Chant?“ „Ja.“ Peter Rains dachte sofort an David Schmidt. Der Junge trieb sich mit großer Vorliebe im Wald herum. Dem Schuldirektor hatte er angeblich mal erzählt, dass es um den Felsen herum eine merkwürdige Energiekonzentration gäbe. Man könne dort wichsen, ohne die Hände zu benutzen. Hat man sowas schon mal gehört? Kids. Schwarzgekleidete Kids mit Combat Boots und Silberstecker im Gesicht. Mann, die Welt geht den Bach runter, aber echt. „Was ist da oben los, Brian? Hat David mal wieder Scheiße gebaut, der kleine... wie sagt man: Gruftie?“ „Peter, David Schmidt ist tot.“ „Was? Um Gottes Willen! David ist tot? Wo ist er? Wer hat ihn gefunden? Was...?“ „Marsha. Marsha Penderski hat ihn... sie... die Toten gefunden, Sheriff. Sie sagte, sie konnte nicht schlafen, wegen der Geräusche, wegen dem... na, du wirst es ja wohl auch hören... Marsha ist jetzt auf dem Revier, wir haben sie in Decken gewickelt und ihr Kaffee gegeben. Lisa kümmert sich um sie. Sheriff... Peter, wir müssen da jetzt sofort rauf und das Gebiet großräumig absperren. Mindestens bis hinter Pendergasts Pension...“ „Die Toten? Was heißt hier: Die Toten? Und was für ein Geräusch? Brian? Lass uns fahren.“ Die eisige Luft gab Peter eine Ohrfeige. Er schlug den Kragen hoch, zog die Mütze tiefer über die Ohren und schlug die Hände zusammen. „Ich hoffe, du hast die Standheizung laufen lassen.“ Brian nickte. Sie gingen zum Sheriffwagen, einem Jeep. Die zwei Deputies sprangen in ihre Streifenwagen und rollten aus der Einfahrt. Brian lenkte den schweren Jeep des County Sheriffs aus er Einfahrt. Peter starrte sein Spiegelbild in der Scheibe an. Tote. Es gab Tote in seinem Ort. Die gab es immer wieder, ja. Alte Leute, die beim Holzhacken zusammenbrachen, Menschen, die sich ins Bett legten und einschliefen ohne wieder aufzuwachen. Der Lauf der Dinge eben. Aber David Schmidt. Um Himmels Willen! Der Junge war grad mal siebzehn. Und auch wenn man seinem Gruftiecharme nichts abgewinnen konnte, er war ein Junge. Er war siebzehn. Und in dem Alter hatte man nicht tot zu sein. „Anderer Tote? Brian? Wer noch? Was ist da oben passiert?“ Brian lenkte den Wagen an den Strassenrand, bremste und brachte ihn zum stehen. Er schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte so laut, dass er fast schrie. „Mein Gott Brian, alter Freund, Brian... was...“ Peter drückte Brian unbeholfen die Schulter. Er hatte den Riesenkerl Brian noch nie weinen gesehen. Noch nicht mal eine Träne zerkneifen. Und jetzt das hier. Plötzlich erstarb Brians Schluchzen. In der momentanen Stille konnte man ein dissonantes Pfeifen hören, das wie Teufelsharfen klang. Viele Teufelsharfen. „Es sind fünfzehn, Peter. Fünfzehn Kinder.“
Den Rest der etwa fünfminütigen Fahrt schwiegen sie. Peter kaute an der Wangeninnenseite, bis es blutete. Das nervige Geräusch wurde lauter. Es klang so schlimm, das einem das Blut in den Adern gefror. Sie fuhren über den Waldweg von der Ostseite die Lichtung an, etwa siebenhundert Meter weg von Pendergasts Pension. Irgendwo schrie ein Frau. Laut und gellend. Sie schrie den Namen ihres Sohnes: Patrick. „Mein Gott, mein Gott, mein Gott. Brian! Patrick ist auch...?“ Peter spürte, dass ihm echt schlecht wurde. Patrick, mein Gott... Brian nickte und parkte den Jeep zwischen zwei Streifenwägen. Die Deputies waren dabei, die Begrenzungsstäbe zu setzen und das Band zu spannen. Der Wald war stark ausgelichtet um den Fels Mark ´s Chant. Der leichte Wind stäubte immer wieder Pulverschnee von den Ästen. Das grauenhafte Geräusch war hier umfassend und zerrte an den Nerfen. „Brian, sorg dafür das Maria auch auf die Wache gebracht wird. Das Übliche, Kaffee, Schnaps, Decke. Los jetzt.“ Brian nickte, machte kehrt und gin zu den zwei Deputies, die Maria Helsfman stützten. Er ging zu seinem ältesten Deputy, dem sechzigjährigen Paul Underwood. „Paul, wo ist David, Davids Leiche?“ „Bei den anderen. Komm.“ Der alte Mann ging stocksteif vor ihm her und murmelte unverständliche Worte. Zwei Worte verstand Peter Rains: David. Und: Satansmessen. Dann blieben sie stehen. Und Brian machte zum ersten Mal in seinem Leben mit dem Gefühl absoluten Schreckens Bekanntschaft. Das Gefühl war so umfassend, dass ihm die Galle hochstieg; sein Mund füllte sich mit Kupfergeschmack. Er wandte sich ab, stützte sich an einem Baum ab und übergab sich. Und er wünschte, er könnte sich ewig übergeben, weil er für diese paar Sekunden das Heulen nicht hörte und auch nicht sah, woher es kam.
Aber er erholte sich, so wie er sich immer erholte. Er wischte sich den Mund ab und machte ein paar unsichere Schritte auf die Lichtung um den Felsen zu. Er stellte sich dem Tod, so wie er es immer getan hatte, wenn es soweit war. Auf den Bäumen rund um den Felsen hingen in unterschiedlichen Höhen, aber nie tiefer als etwa einen halben Meter, fünfzehn Körper. Sie waren nackt. Sie hatten Schlingen um den Hals. Die Hände baumelten frei, und das Geheul wurde vom Knirschen der gefrorenen Schnüre, an denen sie hingen, begleitet. Sie hingen da, wie das abschäulichste Windspiel aller Zeiten, fünfzehn Jugendliche aus der Gemeinde. Kinder, die er alle kannte. Er sah zu ihnen hinauf. Ohne Tränen, ohne Wut und ohne zu verstehen. Er blieb lange so stehen. Unter manchen Leichen hatten sich gelbe Flecken in der dünnen Schneeschicht gesammelt; ein letzter Harngang im Todeskampf? Dann wandte er sich ab und nahm sein Funkgerät: „Wir brauchen einen Leiterwagen, die Feuerwehr. Aber rasch. Wir müssen die Kids da runter holen.“ Peter Rains sah Stephen Fips, den besten Fänger des Countys, sechzehn Jahre alt. Peter sah Esther Livingroom, die er so getröstet hatte, als ihr Hund überfahren wurde. Voriges Jahr war das. Der Mädchenschwarm Frank Stibbits..., er sah Robert Darabont, der der beste Freund seines Sohnes gewesen war. Er sah Lydia, fünfzehn Jahre alt, der er im letzten Sommer das Knie verarztet hatte, nachdem sie mit dem Fahrrad einen Unfall gehabt hatte... „Peter? Lass sie hängen.“ Peter Rains wandte sich ab und sah Paul Underwood an, der langsam auf ihn zuging. „Peter, wenn wir rausfinden wollen, was da passiert ist, müssen wir die Kinder da lassen wo sie sind. Ich weiß, wie sehr wir uns versündigen, Peter. Ich weiß. Aber wir müssen uns ansehen, was es zu sehen gibt, bevor man Hand an die Leichen legt, sie abschneidet und zudeckt.“ Der kleine Floyd Thomas. Vierzehn Jahre alt. Er hing tief. Aber nicht am tiefsten. Am tiefsten hing David Schmidt. Ihm hingen die halblangen, schwarzgefärbten Haare im Gesicht. Der Junge war sehr schlank, die Rippen konnte man zählen. Peter fiel noch was auf. Er konnte es nicht einordnen. Aber da war noch was. „Du hast recht. So beschissen es auch ist. Ich möchte, dass niemand hier rauf kommt.“ Er nahm das Funkgerät und sprach: „Keine Mutter, kein Vater, kein Bruder und keine Schwester soll das hier sehen. Schlimm genug, das es so ist, bei Gott. Schlimm genug. Fordert Verstärkung aus Winterset an. Und wenn das nicht genügt, aus Buffalo. Alle außer Paul und mir gehen zu den Bändern vor. Hindert jeden, der hier rauf kommen will am weitergehen. Schickt die Leute heim, irgendwas. Aber schickt sie weg.“ Die Deputys stoben erleichtert auseinander. Ein paar waren nicht viel älter als die Jugendlichen, die hier hingen. Einer der Deputies wurde gestützt. Er weinte. Er hatte seinen kleinen Bruder unter den Leichen entdeckt. Paul Underwood und Peter Rains blieben allein mit den fünfzehn toten Jugendlichen. Paul fragte: „Was siehst du, Peter?“ Peter Rains schob die behandschuhten Hände in die Jackentaschen, drehte sich im Kreis und schaute zu den Leichen hinauf. Er sah Kinder. Teenager. Kein Kind, dass noch nicht in der Pupertät war. Und kein Erwachsener... „Geschlechtsreife Teenager. Sieben Mädchen, acht Jungs.“ Paul nickte: „Weiter.“ Sie hingen unterschiedlich hoch, jedoch immer so, dass sie die Schnur mit ein wenig klettern selbst an den Ästen festmachen konnten. Peter ging davon aus, dass sie keine Hilfe hatten. Sie kletterten auf die Bäume, machten die Schnüre fest und erhängten sich. Er sah kurz vor seinem inneren Auge, wie sein sechzehnjähriger Sohn, der bei seiner geschiedenen Frau lebte, auf einen dieser Bäume kletterte und sich auf einen Ast setzte, das Seil festband, die Schlinge um den Hals legte und in die Tiefe sah. Er zuckte zusammen. Rudy war nicht hier. Sein Sohn war nicht hier, er war dreihundert Meilen von hier weg. Bei seiner Mutter, bei seiner Mutter. In Sicherheit. „Die Höhe. Am tiefsten hängt David Schmidt...“ „Und ich glaube, er war der letzte, der sich aufgehängt hat...“ „Wie kommst du darauf?“ „Er singt nicht.“ „Was zum Teufel meinst du damit?“ Die Ahnung, wohin diese Gedanken führen konnten, machte Peter Rains scheußlich zu schaffen. „Früher mal, als man Leute noch hochoffizell aufhängte, achtete man darauf, dass man sie nicht Nachts hinrichtete und das es nicht zuviel unter Null hatte. Weißt du, wenn sie einfach erhängt werden, passiert sowas nicht. Damals, als es die Falltüren gab, starben die Deliquienten durch Genickbruch. Wenn jemand im Winter im Freien hingerichtet wurde, konnte es passieren, dass durch die Kälte die Haut über der Bruchstelle riss. Das ergab eine Wunde, an deren Rändern das Blut gefror...“ „Und die Leichen sangen, wenn der Wind wehte, nicht wahr? Mein Gott, mein Gott...“ „Und fällt es dir jetzt doch auf? David Schmidt singt nicht. Er hat sich wahrscheinlich langsam am Seil runtergelassen und ist durch Strangulation gestorben. Als letzer...“ „Aber warum, Paul, warum?“ Pauls Hände zitterten, als er sich eine Zigarette anzündete. „Warum, fragst du mich? Ich glaube, weil David Schmidt diesen Gesang hören wollte. Der Junge hat das auch gelesen; über die Hinrichtungen, da bin ich sicher. Und er hat das alles inszeniert. Das ist Teufelswerk... und ein Junge hats vollbracht.“ Der Wind frischte auf. Das Knarren der von der Kälte steifen Schnüre wurde ebenso lauter wie das Pfeifen des Windes in den hartgefrorenen Wunden im Hals oder dem Genick der Jugendlichen. Der Schneefall wurde stärker und der Pulverschnee trieb in wuchtigen Böen über die Lichtung. Die hartgefrorenen Leichen schwangen stärker. Da brach Peter Rains zusammen. Er kniete auf dem Boden, umklammerte sich und weinte und schrie vor Verzweiflung, Wut und Trauer. Paul nahm das Funkgerät vom Gürtel und sagte: „Wenn die Verstärkung da ist, schickt die stärksten und mutigsten Männer her. Und den Leiterwagen. Wir müssen die Kinder von den Bäumen holen.“ Dann kniete er sich neben Peter Rains, umarmte ihn und tröstete ihn, so gut es ging.