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 Texte aller Art, Gedichte, Lyrik, Kurzgeschichten, Altbeiträge
Nathschlaeger ( gelöscht )
Beiträge:

22.12.2003 15:08
RE: Die Hand meines Vaters Antworten

An die Hand seines Vaters dachte David noch lange, nachdem sie ihn zum letzten Mal berührt hatte. Sie war in seinen Teenagerträumen allgegenwärtig, sie machte ihm Angst, sie demütigte ihn und er verabscheute sie von ganzem Herzen. Die Hand seines Vaters war auch ausschlaggebend für die Scheidung seiner Eltern.
Die Hand seines Vaters erfüllte ihn sowohl mit Trauer wie auch mit Angst und Zorn. Er wusste nicht, welches Gefühl ihn stärker berührte. Er wusste nur, dass er Männer hasste. Nun, eine bestimmte Art von Männern. Der Grund für seine Verachtung und Wut, war die Hand seines Vaters. Viel später dachte David, dass es nicht die Hand war, die er so hasste und fürchtete. Die Hand hatte ihm wehgetan. Aber die Augen seines Vaters hatten ihn beobachtet, wie er sich unter den Schmerzen wand wie ein Wurm am Haken. Die Hand seines Vaters hatte ihn regelrecht aufgespießt. Sie hatte ihn gequetscht und zum weinen gebracht. Da war David gerade fünfzehn Jahre alt.
Als David fünfzehn Jahre alt war, wuchs er sehr schnell, war aber vom Körperbau noch immer kindlich. Er war schlaksig aber nicht zu groß. Er hatte kastanienbraunes Haar, einen Mittelscheitel und ausrasierte Schläfen. Er hatte tiefgrüne Augen und eine glatte, sehr blasse Haut. Sex und Mädchen interessierten ihn nicht wirklich, obwohl er durchaus wusste, um was es da ging. Es schien ihm einfach nicht der Mühe wert, sich da mehr einzubringen. Es genügte, herablassend darüber zu reden und so zu tun, als hätte man das alles schon erlebt. Skaten interessierte ihn. Rene und Philip interessierten ihn. Seine beiden Kumpels, mit denen er im Central Park skaten ging. Philips schrilles Gruftie Outfit bewunderte er über alle Maßen. Philip war Waise und aus einem Heim ausgebüchst. Erzählte er jedenfalls. Er schien immer mit Joints und Kleingeld ausgerüstet zu sein und Rene meinte, dass Philip wohl oft bei den Toiletten auf der Central Station herumhängen würde. David konnte keinen Zusammenhang zwischen Geld und Joints einerseits und Bahnhofstoiletten andererseits herstellen, beließ es aber dabei. Einen der Beiden fragen? Aber nein!
Philip wirkte auf anziehende Weise verdorben und abgebrüht. Er war gepierced und David war sich hundertprozentig sicher, dass Philip auch da unten gepierced war. Er hatte Piercings in der Zunge, in den Ohren, in der Unterlippe, in der rechten Augenbraue und in den Brustwarzen. David fand, dass das irgendwie schwul aussah, aber Philip war so stolz drauf, dass es auch wieder irgendwie in Ordnung war. Bei Philip passte das irgendwie.
Im April 2002 und etwa ein Monat vor der Scheidung seiner Eltern, saßen die drei Jungs ziemlich erschöpft nach einem kleinen Skatergefecht auf einer Parkbank, hatten die Rollerblades ausgezogen und ließen die Füße ausdampfen. Sie hatten sich eine Parkbank nahe der beleuchteten Strasse gesucht nachdem sie ein paar Mal die Erfahrung gemacht hatten, dass nicht nur nette Leute im Park unterwegs waren. Leute, die vierzehnjährigen Jungs komische Sachen nachriefen und dabei einerseits obszön, andererseits aber bettelnd klangen. Philip kramte in seinem Rucksack herum, brachte die Doc Martins zum Vorschein und stellte sie neben seine Füße auf den Boden. Philip war ganz auf Gothic unterwegs, wie er Rene erklärte. Schwarze Klamotten, Armeehosen, Netzleibchen und Nietenhalsbänder. Gerade ging ein Mann vorbei, der sich scheinbar sehr für Philips Füße interessierte. Phil rotzte hoch, spuckte in die Richtung des Mannes und rief ihm heiser nach: „Was ist? Schaust du mich an? Du schaust mich an? Ja? Willst meine Füße lecken, Homo?“
Rene krümmte sich vor Lachen und David bemühte sich, gelangweilt den aufgehenden Mond anzusehen. Sie hatten schon vor einer halben Stunde im Wäldchen hinter der Half-Pipe in der Nähe der 72th Street einen Joint geraucht und David fühlte sich immer sehr milde, wenn er bekifft war.
Rene wimmerte vor Lachen und Philip hatte noch immer diesen verächtlichen Gesichtsausdruck, den er für Schwule einstudiert hatte - manche stehen drauf, wenn man sie so ansieht, hatte er mal verschwörerisch geflüstert, als sie sich mal durch eine Traube von Männern drängelten, die auf Einlass vor einem Lokal warteten. Er war ihnen immer die Erklärung schuldig geblieben, was man davon hatte, wenn man Leute eben so ansah, dass sie drauf abfuhren- als er einen schwarzen Stift aus dem Rucksack angelte und David anvisierte: „Komm, lass mal machen.“
„Was?“
„Du hast Augen wie ne Katze. Da kann man sicher was machen.“
„Was meinst du jetzt? Was?“
Philip rutschte mit einer irgendwie obszönen Bewegung über Rene und setzte sich neben David.
„Eyeliner. Der Trend unter uns Gothboys. Damit schaust du noch cooler aus. Lass mich nur machen.“
Davids letzter Widerstand war: „Es ist zu dunkel, lass den Scheiß. Du siehst eh nichts mehr. Und überhaupt: Du bist bekifft.“
„Ich sehe genug. Halt still. Und blinzle hier nicht rum wie ein Uhu.“
Rene kicherte wieder drauflos und kippte mit einem gespielten Aufschrei von der Bank.
„Baaahhh, ihr Tunten. Ihr Schwestern!“ Er prustete und gackerte während er neugierig zuschaute, wie Philip in Davids Leben eingriff. Philip machte noch ein paar Momente lang rum, dann drehte er den Stift zu und kramte einen Handspiegel aus dem Rucksack. Rene brach in eine weitere Lachexplosion aus und David murmelte: „Egal was Du nimmst, die Hälfte ist mehr als genug.“ Jetzt wieherte auch Philip los und drückte David den Spiegel in die Hand.
„So was braucht man als Strassenjunge. Für den Koks. Echt!“ David sah sich in den Spiegel, erkannte aber nicht gleich die Wirkung dessen, was Philip gemacht hatte. Also stand er auf und ging über den Weg zu einer der Laternen, drehte sich so, dass sein Gesicht beleuchtet wurde und sah sich nochmals in den Spiegel. Der Effekt war verblüffend. Seine Augen wirkten viel größer und intensiver. Der Kontrast zu seiner blassen Hautfarbe war schön; das dunkle Grün der Augen strahlte irisierend.
„Heftig.“ flüsterte David, „Echt heftig.“ Was ihm am besten gefiel war, das er jetzt auch fast so verdorben aussah wie Philip. Das hatte irgendwie seinen eigenen Reiz. David gefiel der Gedanke, verdorben und ordinär zu sein. Nicht so zu sein, wie es seine Eltern gut finden würden. Seine Mutter war egal. Die war ein ängstliches, graues Mäuschen. Aber sein Vater. Der Oberspießbürger vom Dienst. Der Malocher, der Arbeiter und Macher! Oh ja, nicht so zu sein wie sein Vater, schien David das wichtigste überhaupt. Er wußte nicht, ob andere Jugendliche in seinem Alter coole Eltern hatten. Coole Väter. Sein Vater war ein Arschloch. Das war mal amtlich. Wenn es irgendwo einen Planet der coolen Väter gab, fand David, dann war das schwitzende Arschloch von seinem Vater wohl am weitesten davon entfernt. Und wenn es ihm gelingen sollte, mit seinem Outfit am makellosen Ideal seines Vaters zu kratzen, dann hatte es wohl seine Berechtigung. Das makellose Ideal seines Vaters? Gehorsame Weibchen, biersaufende und fleißige Söhne, nach der Arbeit mit den Kumpels saufen und dann heim, die Frau prügeln und zum Abschluss vögeln. Das war amerikanisch. Das war toll.
Sie gingen gemeinsam bis zur U-Bahn, Philip verabschiedete sich und machte sich auf den Weg zur Central Station. Rene meinte, dass Philip wohl Männer abzocken würde. Männer, die Jungs nachsehen. Sie fuhren schweigend bis zu der Station, wo Rene aussteigen musste. Es war inzwischen kurz nach elf Uhr Nachts. Es war Freitag und es waren viele Leute unterwegs. Das milderte Davids Angst, er könnte allein in einem Wagon mit schrägen Typen sitzen, erheblich. Er bemerkte interessierte Blicke; manche abschätzig, manche offen begehrlich; einige angewidert und andere signalisierten stille Zustimmung.
David nahm die drei Etagen zur Wohnung im Galopp, sperrte die Tür auf und versuchte, so leise wie möglich, zu Atem zu kommen. Es war dunkel und es war still. Er war dankbar für beides, denn er fand die Idee, seinen meist wütenden Vater zu provozieren, nun doch nicht mehr so gut. Und als ihm der Geruch von Bieratem in die Nase stieg, wusste David, dass es zu spät für solche Überlegungen war. Er ging, so leise wie möglich durch die Diele und warf einen Blick ins dunkle Wohnzimmer. Der Fernseher war aus und das katzengraue Licht der Strassenlaternen vermochte den Raum kaum zu erhellen; sie gaben der Dunkelheit lediglich Konturen. Sein Vater war einer der Schatten und er saß in seinem schweren Ohrensessel.
„David? Komm her. Ich möchte dich aus der Nähe sehen.“ David hörte das Klicken und das Licht am Beistelltisch ging an. Sein Vater saß in einer heimeligen Lichtinsel. Er war betrunken. Und er war wütend. Ja, die Wut schien in seinem Herzen zu liegen wie ein Schwermetallsee.
„Paps, ich bin müde. Wir waren skaten und ich will nur ins Bett...“
„Komm her, Junge.“
Dieser spezielle, rauh-heisere Sound in der Stimme seines Vaters machte ihm mehr Angst, als das, was er sagte. David stellte den Rucksack mit den Rollerblades im Vorzimmer ab, zog die Schuhe aus und tappte in Socken ins Wohnzimmer. Er stellte sich, die Hände auf dem Rücken vor seinen Vater und achtete darauf, dass sein Gesicht im Dunklen blieb.
„Näher, Sohn.“ David zögerte einen Moment, dann gab er sich einen Ruck und beugte sich vor und sah seinem wütenden Vater in die Augen. Joseph „Joe“ Schmidt zog Luft ein und hielt sie an. Seine Augen weiteten sich. Der Bierdunst stieg aus seinen Poren. Er machte Fäuste, entspannte die Hände, machte Fäuste... Die Sehnen auf seinen Unterarmen traten wie Kabel vor, die Muskeln spannten sich. David spürte die Panik wie ein kleines, ängstliches Tier in seinem Herzen herumzuflattern. Dann stand sein Vater auf und ging an ihm vorbei. Er schloss die Tür zur Diele und David dachte für einen Moment, er könnte es überstanden haben. Den Blick vom saufen getrübt; die Chancen standen nicht schlecht. Joe Schmidt stellte sich vor seinen Sohn und legte seine rechte, überaus große Hand auf Davids Schoß. David war starr vor Schreck. Er hatte oft genug in den Zeitungen gelesen, dass sich Väter mitunter an ihren Töchtern vergingen. Aber auch an Söhnen? Das der Griff in seine Mitte jedoch kein sexuelles Begehren war, spürte er, als sein Vater geschickt und mit dem Instinkt eines wilden Tieres, durch den Stoff der Jeans die Eier ertastete. Noch war der Griff sanft und beinahe zärtlich. Joe Schmidt sah seinem Sohn prüfend in die Augen, mit diesem so sehr verhassten völlig verstrahlten Alkoholiker Blick. Wider Willen bemerkte David, dass sein Schwanz auf den äußeren Reiz reagierte und halbsteif wurde. Er hatte Angst und es war ihm so peinlich. Die Panik machte sich über sein Herz her und schmeckte wie Kupfer im Mund.
Joe Schmidt drückte zu. David schrie; es war etwas zwischen heißem Ausatmen und Kieksen. Tränen traten aus seinen Augen. Er dachte, diese Schmerzexplosion könnte durch nichts mehr verschlimmert werden. Er hatte sich getäuscht. Der Griff lockerte sich kurz, die Finger krabbelten wie gierige Blutegel auf dem Stoff der Jeans umher, bis sie eine neue Position gefunden hatten. Davids Vater verstärkte seinen Griff und David wimmerte: „Paaapa, bitte, es tut...“
„Was tut es, mein Sohn? Tut es weh?“ Joe Schmidt prüfte anhand der Tränen, die aus Davids Augen flossen, diese Aussage auf ihren Wahrheitsgehalt und lockerte den Griff.
„Und weißt du, warum es weh tut?“
David stand noch immer da und er würde zu Boden sinken, wenn ihn die Hand seines Vaters nicht unerbittlich aufrecht halten würde. Davids Arme waren noch immer auf dem Rücken verschränkt, so wie es ihm sein Vater bei hunderten Ohrfeigen beigebracht hatte; Schweiß perlte auf seiner Stirn und die Tränen verschmierten die Kajalspuren. Seine Tränen sahen aus wie die aufgemalten Tränen eines Clowns. Sein Vater grinste selbstzufrieden: „Es tut weh, weil du Eier hast. Es tut weh, weil du ein Mann bist. Und weißt du was? Männer schminken sich nicht. Außer die Schwuchteln von der Christopher Street, die Arschwackler. Bist du ein Arschwackler, Sohn? Ein Stricher? Bist du ein Homo?“
David schüttelte den Kopf. Er blickte etwas weiter nach links und sah die zweite Tür zum Wohnzimmer aufgehen. Seine Mutter stand wie ein konturenloses Gespenst in der Tür und sah, was ihr Mann da mit ihrem Sohn machte. Sie schrie auf: „Joe, um Gottes Willen, lass David los. Lass den Jungen los, verdammt!“ Bei dem Wort -verdammt- drückte Joe noch einmal fest zu und ließ dann einfach los. Dieser Schmerz war der schlimmste Schmerz aller Zeiten. Denn er war von einem Geräusch begleitet, als würde eine Frucht platzen. David sank weinend zu Boden, hielt seine Hände wie Halbschalen vor seinen Schoß und sah, wie sein Vater ausholte und seine Mutter aus dem Zimmer prügelte. Und seltsamerweise hörte David das angestrengte Schnaufen seines Vaters deutlicher, als das Kreischen seiner Mutter. Blut tränkte seine Jeans und lief innen an seinen Schenkeln runter.
David blieb lange so auf dem Boden knien. Der Schmerz rollte in glühenden Wellen von seiner Mitte aus über seinen ganzen Leib und umfasste ihn voll und ganz. Er hörte es nicht selbst, aber die ganze Zeit über, bis sein Vater zurückkam, machte David beim ausatmen ein Geräusch wie: „Iiiiiihhhhh... iiihhhhhh...“ Kurz bevor er bewusstlos zusammensackte, sah er, wie sein Vater völlig ungerührt an ihm vorbeiging, raus auf die Diele und in die Küche, um sich noch ein Bier zu besorgen. Von seinen Fäusten tropfte Blut.

Noch in dieser Nacht, besser gesagt, in den grauen Morgenstunden, packte Marsha Schmidt die nötigsten Habseligkeiten, holte sich das Wirtschaftsgeld aus der Zuckerdose, das Sparbuch aus der Schreibtischlade und die Pässe, den Führerschein und strapazierfähige Kleidung, trug die Sachen zum kleinen Toyota und packte sie in den Kofferraum. Die Nacht war still und wie dafür gemacht, jedes Geräusch einer flüchtenden Frau weit hinauszutragen. Von den Kanaldeckeln stiegen weiße Dampfschwaden auf, die Strassen schimmerten matt feucht. In einem Akt völlig verzweifelter Kraftanstrengung trug sie den bewusstlosen David die drei Etagen runter und packte ihn auf den Beifahrersitz. Sie viel auf die Knie, als sie die Beine ihres Sohnes in den Wagen hob und heulte auf. Die Rückenschmerzen waren enorm. Joes Fäuste wußten, wo sie am meisten Schaden anrichten können. Ihr Gesicht war dunkelrot und verschwollen, ihre Lippen geplatzt. Dennoch biss sie die Zähne zusammen, schleppte sich um den Wagen herum und setzte sich hinter das Steuer. Dann fuhr sie los.
Hin und wieder sah sie zu ihrem Sohn. Seine Wimpern flatterten, sein Mund war halb offen und Spucke glänzte auf seinem Kinn. „Spital,“ dachte sie: „Spital; und dann brauchen wir eine Unterkunft. Gott hilf uns bitte.“
Und Gott, so erschien es Marsha Schmidt, erhörte sie. Im Spital stellte man keine jener Fragen, die verängstigte und nervöse Frauen völlig aus der Bahn werfen würden. Bei David wurde Hodenbruch diagnostiziert, der Hodensack war eingerissen; man musste ihm einen Hoden entfernen um den anderen nicht zu gefährden. Marsha dachte, dass es nichts Scheußlicheres geben könnte, als im Morgengrauen mit dem Sohn im Spital zu sein. Geflüchtet und heimatlos. Erfüllt mit Angst und Sorge, die wie Galle im Mund schmeckten. Marsha wurde zwischen Tür und Angel verpflastert, bekam Salben mit und wärmende Worte. Sie hatte andauernd das Gefühl, erbrechen zu müssen, aber sie würgte immer wieder nur Galle bis in den Hals.
Eine junge Ärztin empfahl Marsha Schmidt ein Mutter-Kind Heim. Sie hatte etwas in ihrem Blick, dass Marsha vermuten ließ, diese Ärztin hätte selbst einmal diese Art der Hilfe gebraucht.

Während David operiert wurde, kümmerte sie sich mit ihren letzten Kraftreserven um die Formalitäten im Frauenhaus. Es gab dort fast keinen Platz mehr. Marsha Schmidt taumelte mehr, als sie ging. Sie brach immer wieder zusammen. Die Kreuzschmerzen waren grässlich. Endlich erbarmte man sich ihrer und wies ihr ein kleines Zimmer zu. Eine der Frauen, die hier schon länger lebte, brachte Marsha eine Rheumasalbe und eine flauschige Decke. Marsha legte sich Samstagmittag ins Bett; Irene, die Frau die die Salbe gebracht hatte, massierte die Rheuma Lösung ein und Marsha schlief nach ein paar rasselnden Atemzügen ein.

David blieb bis zum darauf folgenden Mittwoch im Spital. In der Schule sprach sich herum, was geschehen war. Nun, nicht genau. Das er von seinem Vater misshandelt worden war, im Spital lag und das seine arme Mutter in einem Frauenhaus war. Das Negativbeispiel für die edle, amerikanische Ehe, dachte David viel später, als er sich bereits mit dem Fehlen eines Hodens abgefunden hatte. Ein Fleck im amerikanischen Orange. Am Dienstagabend besuchte ihn überraschenderweise Philip. David, der in den Tagen seines Spitalsaufenthaltes völlig neben sich stand und sich nicht zu irgendeiner Emotion imstande fand, spürte erst, als Philip ihn in den Arm nahm und auf die Wange küsste, wie einsam und traurig er war. Wie sein bisheriges Leben ganz und gar in Auflösung war. Seit der Operation seines linken Hodens war David regungslos im Bett gelegen. Er hatte emotionslos ferngesehen, wenn jemand den Fernseher aufgedreht hatte, er hatte gegessen, wenn jemand was zu essen gebracht hatte und er hatte getrunken, wenn ihm jemand was zu trinken gebracht hatte. Er war tief in sich gefangen und für den Moment war es gut. Aber als Philip kam, der leichtfüßige Strassenjunge, der mit den geschminkten Augen, den Nietenhalsbändern und der zerrissenen, schwarzen Jeans, als dieser Bursche ihn in die Arme nahm und als David die Tränen dieses Burschen auf seinen Wangen spürte, ließ er sich endlich fallen und weinte, wie er noch nie geweint hatte. Am Gang gingen Krankenschwestern vorbei und blieben stehen, schauten durch die Tür und machten ein Gesicht, als ob sie gerade eine dramatische Szene in ihrer Lieblings Sitcom sehen würden

An diesem Abend sah er Philip, dessen Nachnamen er nie erfahren hatte, zum letzten mal. Nun, einmal noch sah er ihn in einer Zeitung. Philip wurde knapp zwei Jahre später von drei Männern vergewaltigt und mit Stahlstangen zu Tode geprügelt. Man fand seine geschändete Leiche in einem unterirdischen Abwasserkanal in der Nähe der Central Station. Aber als David das erfuhr, war er schon zu weit weg von allem menschlichen, um noch Trauer oder Wut zu empfinden.

Marsha und David Schmidt lebten noch ein halbes Jahr in dem Frauenheim. Im September 2002 starb Marshas Mutter an einem Gehirnschlag. Sie hinterließ Marsha ein kleines Haus in Iowa. Genau genommen in Old Hanley, Iowa. Das Haus war alt und seit ewigen Zeiten im Besitz der Familie ihrer Mutter. Davids Großmutter mütterlicherseits hatte zunächst in Winterset, Iowa gelebt; dort, wo der Film mit Clint Eastwood gedreht worden war, der Film mit dem Fotograf und den überdachten Brücken. Davids Mutter war in Winterset aufgewachsen und als Anwaltsgehilfin nach New York gegangen. Sie wollte soweit wie nur möglich weg aus dem ländlichen Mief Iowas. Und selbst die Großstädte in Iowa waren ihr zu urban. In New York lernte sie den beeindruckend starken Joseph Schmidt kennen. Der Rest war Geschichte.
Nach dem Tod ihres Mannes war Marshas Mutter von Winterset nach Old Hanley in das Haus ihrer Mutter übersiedelt. Nun war Marshas Mutter tot und sie hatte die Chance, ihre Einstellung zum ländlichen Leben noch einmal zu überdenken. Sie entschied sich sofort dafür, nach Old Hanley zu übersiedeln, samt Sack und Pack und Sohn. Der Hauptgrund für ihre rasche Entscheidung war, dass Joe nichts von dem Haus wusste. Sie hatte es ja selbst fast vergessen. Sie erinnerte sich, nachdem sie die Entscheidung getroffen hatte, immer deutlicher und an immer mehr Einzelheiten. Sie hatten Großmutter besucht. Sie erinnerte sich an einen recht wilden Garten am Waldrand; an einen kleinen, kristallklaren Bach, der den verwilderten Garten vom Waldrand trennte. Apfelbäume... Sie erinnerte sich an den Geruch von grünen Äpfeln. Und das war wirklich gut. Eine Küche mit Blick auf den hinteren Garten. Sie assoziierte diese inneren Bilder des Hauses mit Frieden. Eine Zeit, lang vor Joe, könnte wieder möglich sein. Die körperlichen Schmerzen könnte sie sehr bald vergessen. Aber die Angst, die in ihr nur darauf wartete, auszubrechen, diese zu besiegen, würde mehr verlangen als nur Distanz und ein neues Heim. Viel mehr. Und gerade der, den sie beschützen wollte, wurde zum größten Gegner in ihrem Kampf um ein wenig Frieden und Eintracht. Das wußte sie natürlich noch nicht. David war, nachdem er aus dem Spital entlassen worden war, ein wenig außer Rand und Band, aber nicht in einem Ausmaß, dass Anlass zur Sorge gegeben hätte. David war nicht laut, aber er war fiebrig und er war heiser. Marsha wußte sich kein anderes Wort dafür. David war ein heiserer Junge. Wenn sie mit der Frau aus dem Nachbarzimmer sprach und wenn es um die Kinder ging, beschrieb sie David als heiseren Jungen. Marsha hatte ein Detail übersehen, oder besser gesagt: überhört. Die Zimmernachbarin sagte ihr das mal, als sie im Garten hinter dem Frauenhaus saßen und Eistee tranken. David war in der Schule; es war kurz nach Mittag.
„Marsha?“
„Hm?“
„Hörst Du eigentlich manchmal, wie David spricht?“
„Hmm, was meinst du?“
„Du sagst, er sei ein heiserer Bursche.“
„...Junge.“
„Auch gut. Aber er ist mehr als das. Ich hab ihn mal fluchen gehört. Du warst einkaufen und er saß im Zimmer. Die Tür war nur angelehnt. Er saß auf der Couch, sah fern und fluchte. Und Marsha: Ich habe solche Ausdrücke noch nie gehört. Zuhälter kennen vielleicht solche Worte. Nutten kennen sie vielleicht. Aber da war soviel Hass drin. Auch in der Art, wie er es sagte...“
„Heiser.“
„Ja.“
„Ich glaube, er verbrennt innerlich.“
„Kann sein. Er hat Plutonium im Arsch.“
„Hoffentlich nichts anderes...“
„Komm, komm, komm, Edwina, das meinst du doch nicht ernst. Glaubst du, dass David... also nein...“
„Nein, das glaub ich nicht. Aber ich glaube, er kennt Menschen die so was tun. Und weißt du was? Ich glaube, es fasziniert ihn. Diese dunkle... die Schattenwelt...“
„Nicht Luke Skywalker sondern Darth Vader?“
Edwina lächelte und drückte Marshas Hand. „Wenn du nicht auf ihn aufpasst, wird er ein kleiner Darth Vader werden. Pass auf den Jungen auf. Er brennt so hell. Und das ist nie gut. Solche Jungen können gar nicht genug von all den verbotenen Früchten kriegen.“

Womit Edwina Kempel vollkommen Recht hatte.



[f1][ Editiert von Nathschlaeger am: 22.12.2003 15:23 ][/f]

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