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Dieses Thema hat 0 Antworten
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 Texte aller Art, Gedichte, Lyrik, Kurzgeschichten, Altbeiträge
Nathschlaeger ( gelöscht )
Beiträge:

16.02.2004 12:41
RE: Ivos Wolf Antworten

In Anlehnung an eine andere Geschichte, die von jemanden anderem erzählt wurde, könnte man zusammenfassend sagen: Der weiße Wolf trabte durch die Eiswüste und Ivo folgte ihm. Damit wäre die Geschichte auch schon wieder erzählt. Eigentlich. Das hieße aber auch, Euch vorzuenthalten, dass die Eiswüste in Sibirien war, ungefähr vierzig Kilometer westlich der Ausläufer des Jablonowyjgebirge, ja genau, ein Stück weit weg von der eingeschneiten Ortschaft Pamjat-Lenina.
Es war Oktober. Und Oktober war die Zeit für blendend weißen Schnee am Tag und sternenklares, katzengraues Schimmern in der Nacht.
Wäre es mit dem obigen Satz getan, wüssten wir wohl nicht, dass Ivo in Wirklichkeit Iwan Abt hieß und sechzehn Jahre alt war. Ein ziemlich hübscher, blasser und wilder Junge. Er musste wohl ein wilder Junge sein, denn wieso sollte er sonst seit drei Tagen dem weißen Wolf durch die Schneewüste folgen?
Die Schneewüste war hügeliges Land, vom Schnee eingeebnete Felder; Versuche von Menschen, der grausamen Natur etwas abzutrotzen. Der Schnee ebnete Felder und Seen, Dörfer und in Talsenken liegende Wäldchen ein.
Ivo hatte gehofft, der Wolf würde so sozial sein und vielleicht den Gleisen der transsibirischen Eisenbahn folgen. Tagsüber hatte es im Schnitt minus 7 Grad, in den Nächten fiel die Temperatur auf etwa minus 12 Grad. Es war noch recht milde und Ivo machte sich schön langsam Sorgen, ob er diese Reise überleben würde. Die grausame Kälte des Novembers, des Dezembers lag noch vor ihm. Ebenso wie die verschwenderischen Schneefälle, die im April noch mal das Land zudeckten.
„Verdammt.“, dachte Ivo: „Verdammt, was bin ich für ein Narr, diesem lebendigen Schneehaufen mit den grünen Augen zu folgen.“
Ohne zu wissen, dass der Wolf in Wirklichkeit eine Wölfin ist, hat Ivo ihr den Namen Akela gegeben. Tatsächlich hatte sich Ivo überhaupt keine Gedanken gemacht, welchen Geschlechts dieser fleischgewordene Wille Sibiriens sein könnte.
Jetzt werdet ihr fragen: Und wann hat Ivo den Wolf zum ersten Mal gesehen? Wann hat er die Verfolgung aufgenommen? Und: Warum tut er das? Komm schon! Lass dir nicht so die Würmer aus der Nase ziehen.
Gut gut, meine Freunde. Gemach, gemach. Ich will es euch ja erzählen. Aber lasst mich doch erst noch mal einen Schluck von diesem großartigen Wässerchen hier nehmen –
- Du meinst wohl Wodka –
- Ja, meine ich –
Und dann kann ich auch schon wieder weitererzählen.

Na, passt auf: Ivo stammt aus der kleinen Stadt Tschita. Tschita liegt in einer Welle der Ausläufer des Jablonowyjgebirge. Die Stadt ist eingefasst von sanften Hügeln und man hat dort einen tollen Blick auf die schroffen Formationen des Gebirges. Die transsibirische Eisenbahn schlängelt sich hinterlistig an den Ausläufern des Gebirges vorbei und schwenkt dann kurz nach dem Gebirge in das weite Tal, in dem Tschita liegt. Von dort geht dann der Zug über Ulan-Ude weiter zum Baikalsee und dann – noch viel weiter. Nach Moskau. Von Tschita bis zum Ufer des Baikalsees sind es rund dreihundertsechzig Kilometer. Im Sommer ist diese Strecke durchaus zu Fuß zu schaffen, wenn man ein wenig Proviant mit hat und sich in den Wäldern vor den riesigen Stechmücken schützen kann. Im Winter jedoch, da ist es wirklich gefährlich. Man könnte in Schneebrettern einsinken und ersticken, von sibirischen Tigern niedergerissen und getötet werden, man könnte sich im Wald verlaufen… Aber macht euch keine Sorgen, Ivo lebt noch, er ist ein guter Läufer und wie ich schon sagte: Ein wilder Junge.
Nun, in den letzten paar Wochen war er wohl etwas zu wild. Ihr müsst wissen, Ivo trank sehr gerne über den Durst. Vor allem, wenn er mit seinem Vater Streit hatte, oder mal wieder von seinem Vater geschlagen worden war. Obwohl Ivo ein wilder Junge war, war er auch ein sanfter Junge. Niemand, der sich gerne prügelt. Ivo konnte stundenlang mit seinen Freunden Sven und Sergej reden und reden und reden und viel Wodka trinken, er konnte im Mai in den eiskalten Fluss Tschita springen und tage- und nächtelang über die Eisfelder von Sibirien wandern. Ivo war sehnig und kräftig, und doch konnte er weder sich selbst noch seine Mutter vor seinem jähzornigen Vater schützen.
Dann, vor vier Tagen, schmiss ihn sein Lehrherr raus, weil er betrunken zur Arbeit gekommen war
„Wodka! Schon in der Früh! Iwan, pack dich und verschwinde!“
Am selben Tag trafen sich Sven, der sein Geselle war und Ivo und Sergej, der sich zu gerne und zu oft am Bahnhof herumtrieb, in Rigos Stube; einer kleinen Schenke am Fluss. Die Jungs tranken und tranken und sie lachten. Und als der Alkohol die Stimmung drückte, umarmten sie sich und weinten ein wenig. Sven, weil Ivo nun nicht mehr mit ihm zu den Baustellen fuhr, Ivo wegen der Angst vor seinem Vater und Sergej, weil es am Bahnhof einen Jungen namens Dimitrij gab, der ihn nervös machte. Ivo verstand zwar nicht, was einem da zum weinen bringen könnte, wenn einem ein Junge nervös machte und Sergej sagte, dass es Leute gibt, die eben so schön sind und so viel Würde ausstrahlen, dass man einfach nervös sein musste und das es traurig ist, wenn man da nervös wird. Und alles… Ivo verstand ansatzweise, was Sergej meinte und wünschte ihm insgeheim Glück. Er wollte aber nicht darüber nachdenken sondern weinen. Die Trauer und Angst aus dem Herzen spülen.
Später, als sie ihre Tränen getrocknet und sich noch eine Runde Wodka und Traubenlimonade bestellt hatten, ging Ivo raus und rund ums Haus um über die Böschung runter in den Tschita zu pinkeln. Ivo mochte das ranzig stinkende Klo nicht. Und er mochte die fürchterlich stinkenden Männer nicht, die dort manchmal zusammengerollt schliefen.
Ivo stand da und wartete, dass es lief. Doch da kam nichts. Er spürte, dass er dringend, wirklich sehr dringend pissen musste. Aber irgendwie war da unten alles verkrampft.
Und da spürte er diesen heißen, feuchten Luftzug in seinem Nacken. Ivo lehnte an dem bröckelnden Gemäuer des Hauses, in dem sich die Schenke befand und aus einer schmalen Nische fuhr plötzlich dieser Hauch. Raubtierhauch! Dann spürte Ivo, wie etwas Heißes und Nasses über seinen Nacken leckte. Er wandte den Kopf nach links und sah eine Reihe weißer Zähne und darüber eine grauschwarze Schnauze. Und darüber wiederum ein paar grüne Augen. Der Wolf hob den Kopf und heulte den Halbmond an, der inmitten der verschwenderisch ausgestreuten Sterne am Himmel klebte. Ivo blieb wie angewurzelt stehen, pisste und wusste; er war überzeugt, dass er jetzt sterben würde. Gerissen und zerfleischt von einem sibirischen Wolf. Und tatsächlich: der Wolf öffnete sein Maul und schnappte mit einer spielerischen Geste nach Ivos schwarzen, langen Haaren und zog ihn zu sich her. Ivo stockte der Atem. Er hatte vergessen, dass er entblößt in der schneidenden Kälte stand. Er stand Auge in Auge mit einem großen, weißen Wolf. Der Wolf kauerte in einer dunkeln Nische. Mit einer flinken Bewegung rutschte der Wolf etwas vor und eine Handvoll Schutt rieselte zu Boden. Ivo stand noch immer wie angewurzelt da, unfähig sich zu bewegen. Der Wolf schnappte sanft nach Ivos Ärmel und zog ihn hoch. Ivo glaubte zu verstehen.
„Du willst? Du willst gestreichelt werden, ja?“ Ivo kicherte und er fühlte sich nicht mehr betrunken. Und auch nicht mehr traurig. Er hob beide Hände, zaghaft und ziemlich respektvoll und legte sie links und rechts an den Kopf des Wolfes. Meine Güte, dachte Ivo. Ist das flauschig. Und warm. Der Wolf hob den Kopf und bot Ivo seinen Hals an. Ivo kannte die Gebärdensprache der wilden Wölfe zwar nicht, sah dies aber als Zeichen des Vertrauens und kuschelte seinen Kopf an den Hals des weißen Wolfes.
Mein Gott, dachte Ivo, was tu ich da?
Alles was er je gelernt hatte schrie: Nein! Tu das nicht! Das ist eine Falle! Sein Herz sagte ihm aber schlicht und einfach: Es ist gut so. Vertraue.
Und der Wolf sagte: Folge mir zum Auge Gottes. Ein Schamane muss tanzen.
Und das tat Ivo dann auch: Er ging in die Stube, zahlte seinen Getränke und entschuldigte sich bei seinen Freunden mit plötzlicher Übelkeit. Sergej dachte, er würde etwas Neues und Wildes an Ivo riechen. Wenn man jemanden schon so lange kannte, dann kannte man wohl auch seine Gerüche. Sergej dachte, er könnte an Ivo für den Bruchteil einer Sekunde den wilden Atem freier Nächte riechen, das Licht der Sterne und den Schimmer des weinenden Mondes. Er glaubte, an Iwan Abt den Geruch von Sibirien zu riechen. Intensiver als je zuvor.
So blieben Sven und Sergej sitzen, teilten brüderlich, was Ivo übergelassen hatte und fingen irgendwann, im samtenen Schimmer der sibirischen Nacht zu singen an.

Der Wolf lief durch die Eiswüste und Ivo folgte ihm. Kam ihm bald näher und sah ihn manchmal nur aus der Ferne. Und am dritten Tag, als Ivo schon daran dachte aufzugeben und umzukehren, da holte er den Wolf ein. Sie befanden sich etwa einen Kilometer südlich von Breobrashenka, einer kleinen Ortschaft, die sich an einen Waldsee schmiegte. Zuerst waren sie noch über ein weites Feld getrabt und am Rand des Schnees hatte Ivo die dunkle Front eines Waldes gesehen. Der Wolf war direkt drauf zu gelaufen. Und am Rand des kahlen tiefen Birkenwaldes war er stehen geblieben und hatte sich nach Ivo umgedreht. Ivo dachte: Hast du wirklich zu mir gesprochen? Mit dieser Mutterstimme? Oder war das einfach der Wodka? Und wie oft frage ich mich das denn schon?
Ivo erreichte den Wolf und ließ sich die Hand lecken. Dann kauerte er sich auf den Boden und umarmte ihn.
Sei sanft, Junge. Ich bin eine Frau.
Ivo zuckte zusammen und umklammerte die Wölfin fester. Er küsste sie auf die kalte Schnauze und fragte: „Wohin? Wohin gehen wir wirklich?“
Sie antwortete: „Einst war ich eine Frau. Eine Jakutin. Ich war Mutter und Schamanin. Jetzt bin ich eine Wölfin. Weiß wie der Schnee. Wohin wir gehen, Ivo? Ich mache meine letzte Reise. Ich möchte als menschliche Frau sterben. Und du? Du machst deine erste Reise. Du sollst von einem Pfeil zu einem Mann reifen. Du sollst Jakuten und Burjaten, Tungusen, Tschuktschen, Korjaken und Kasachen mit der Kraft des Schamanismus der Jakuten vereinen. Sibiriens Chance zu überleben liegt nicht in der der fernen Diktatur der Industrie sondern im erdverbundenen Glauben der Völker. Sie brauchen nur einen gemeinsamen Satz, verstehst du?“
„Nein.“
Die Wölfin heulte entzückt den Abend an, denn es war inzwischen Abend geworden.
„Du wirst verstehen, hübscher Ivo, du wirst verstehen.“
Und für den Bruchteil einer Sekunde sah sich Ivo selbst als Wolf. Als pechschwarzer Wolf mit dunkelblauen Augen. Er sah sich über die Steppen hetzen und durch das Unterholz von Wäldern brechen. Nicht um zu töten und zu reißen. Das auch. Aber nicht nur. Sondern um erspäht zu werden. Ein Symbol von wilder Freiheit. Ein öliger schwarzer Blitz voller Eleganz. Gewaltig und doch sanft. Wild und doch weise. Der Gedanke gefiel Ivo außerordentlich.
„Akela?“
Die weiße Wölfin blieb stehen und trabte zu ihm zurück. Dann sprang sie an ihm hoch, legte die Tatzen auf seine schmalen Schultern und grinste ihm ins Gesicht.
„Der Name ist gut Ivo, sehr gut sogar. Danke, dass du ihn mir gegeben hast.“
„Akela, mir ist kalt und ich habe Hunger.“
Die Wölfin glitt sanft wie Schnee von ihm ab und sagte: „Gegen die Kälte kann ich was tun. Auch gegen den Hunger. Wenn du rohes Fleisch magst. Was ist dringender, Junge? Kälte oder Hunger?“
„Die Kälte Akela, die Kälte ist wirklich übel.“
„Na, dann komm, Ivo.“
Sie trabte voran und Ivo folgte ihr in den Wald. Es ging über gestürzte Bäume und durch Waldsenken, einem ausgetrockneten Bachbett entlang, bis sie zu einer Holzhütte kamen. Die Hütte war alt und verlassen und diente Jägern aus der Umgebung als Unterschlupf. Ivo hatte von solchen Hütten gehört. Es gab sie überall in Sibirien. In den Hütten gab es Vorräte in Dosen. Jeder, der vorbeikam, konnte sich davon nehmen, was er wollte. Man musste die Vorräte nur wieder auffüllen. So eine Art Überlebenskodex für einsame Wanderer.
„Drin findest du was für den Hunger, Ivo. Für die Wärme sorge ich.“

Ivo öffnete die schwere Holztür und trat in den dunkeln, muffigen Raum. Im halben Licht des Türspalts fand er auf dem Tisch, der in der Mitte des Raums stand, eine Petroleumlampe. Er hob sie hoch und roch. Dann fand er noch eine Schachtel Zünder auf dem Tisch. Ivo machte Licht und sah sich in dem kleinen Raum um. Es gab diesen Tisch und zwei Holzschemel, ein Feldbett und einen großen Schrank. Dort waren sicher die Lebensmittel. Akela kam in die Stube und sprang auf das Feldbett. Sie plumpste zur Seite und hechelte vergnügt.
Iss später, dachte sie in seinem Kopf. Schlaf zuerst. Ich werde dich wärmen.
Ivo fand, dass der Hunger nicht so schlimm war wie der Wunsch nach Wärme und setzte sich aufs Bett.
Bist du schüchtern?
Ivo schüttelte den Kopf: Ich bin wild.
Dann komm.
Ivo zog die graue Filzdecke vom Bett; Akela machte ein paar Bewegungen um ihm zu ermöglichen, die Decke unter ihr wegzuziehen und knäuelte sie am Fußende zusammen. Dann schlüpfte er aus seinen dicken Wanderstiefeln und massierte mit schmerzverzerrtem Gesicht die Zehen. Schlafen, dachte Ivo müde und irgendwie zufrieden. Was für eine gute Idee.
Er legte sich mit dem Rücken zu Akela auf das Bett und spürte für den Bruchteil einer Sekunde eine merkwürdige erotische Strömung. Er strampelte seine Beine unter die Filzdecke und kuschelte sich an Akela.
Er dachte und das Denken ging in einen Traum über: Die Völker vereinen und ihnen… ja was?
Ein Symbol schenken um ihnen zu ermöglichen, an das Ursprüngliche zu glauben. Weißt du Ivo, Sibirien ist wirklich die große Mutter. Und all die Völker sind ihre Söhne. Der Glauben kann die Völker verbinden, weißt du? Glaube und Hoffnung. Glaube und Hoffnung brauchen ein Symbol…
Ivo lächelte, während er dem Schlaf entgegen dämmerte: Das war früher ein weißer Wolf, dieses Symbol. Und in Zukunft soll es ein schwarzer Wolf sein. Und deshalb gehen wir zum Schamanen am großen See…
Jaja, am Baikalsee. Am Baikalsee. Schlaf jetzt, schöner Ivo. Schlaf jetzt. Du hast noch weit zu gehen ehe du ruhen kannst. Und du hast noch viel zu tun.
Ivo lächelte noch immer, als er schon längst eingeschlafen war. Und unter seinen Lidern verfärbten sich seine dunkelbraunen Augen und wurden nachtblau.
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