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Dieses Thema hat 0 Antworten
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Gast ( gelöscht )
Beiträge:

01.05.2004 09:40
RE: KZ Antworten

Augen-Blicke

Die Mittagssonne brannte auf das Feld. Den schwer arbeitenden Männern lief der Schweiß herunter.
Jeremec stöhnt und richtet sich auf. Er wendet sich dem Stacheldraht und den dahinter arbeitenden Frauen zu. Die Frauen bilden kaum einen Unterschied zu den Männern: sie haben dieselben kahl geschorenen Köpfe und tragen die gleiche schwarz-weiße KZ-Häftlingskleidung. Vor seinen Augen verschwimmt die Schlange der Frauen zu einem schwarz-weißen Wurm.
Sein Blick bleibt an einem Gesicht hängen. Es ist ein besonderes Gesicht.

Die Frauen arbeiten nicht weit entfernt, nur wenige Meter trennen sie von den Männern. Dieses Gesicht würde auch aus 100 Metern Entfernung herausragen, denkt Jeremec. Er kneift die Augen zusammen, um die klaren Gesichtszüge der Frau zu verfolgen: eine hohe, fliehende Stirn deutet auf polnisches Abstammen. Eine schlanke, kantige Nase folgt; der schmale, kräftige und resolut wirkende Mund vollendet das Gesicht. Es ist Jeremec jedoch unmöglich, die Augenfarbe zu erkennen.
Es sind kluge und ungewöhnliche Augen. Es sind Augen, die auf einen energischen, Vorwärtsstrebenden Menschen hinweisen, einen Menschen mit Stolz und Würde, doch ohne jeglichen Hochmut.
Er versucht sich vorzustellen, wem diese seltsamen Augen gehören, wer dieser Mensch ist…

Jeremec bemerkt den Aufseher mit dem Holzknüppel erst, als dieser zum Schlag gegen ihn ausholt. Sein Kopf wird ruckartig nach vorne gerissen, als der Knüppel voller Wucht seinen Hinterkopf trifft. Während er zu Boden fällt, hört er die wütenden Stimme des SS-Mannes: “ Du sollst nicht rumstehen und glotzen! Zu Arbeiten hast du, kapiert?“
Jeremec möchte antworten, dass er nur die Augenfarbe dieser fesselnden Frau herausfinden wollte. Doch es wird trüb und schwarz vor seinen Augen.

Er erwacht im Garten seiner Kindheit.
Es hatte geregnet. Ein Labyrinth voller Pfützen. Provozierend nah neben den Pfützen war er, der kleine Jeremec, gesprungen.
Platsch! Das Wasser spritzte. Verstohlen hatte er um sich geblickt, in der Hoffnung, es habe ihn keiner gesehen. Doch in der Tür stand das Kindermädchen…SIE ist es. Still und ernst blickt sie ihn an…

Er träumt. Der Krankenflügel. Das Licht ist kalt und hell. Pochender Schmerz im Hinterkopf. Ein Schatten verdeckt das grelle Licht. SIE lächelt ihn an, gutmütig und beruhigend.
Jeremec dämmert vor sich hin…

Er wünscht sich so sehr, mit IHR ein langes Leben zu verbringen und Kinder zu bekommen, dass er sich in eine ferne Zukunft träumt: Auf dem Bett meint er schemenhaft die Gestalt einer seiner Söhne zu erkennen; sie erscheint ihm starr und leblos.
Ihm fällt auf, dass der Sohn die gleichen Augen wie SIE hat, die gleichen seltsamen Augen…

An sein Ohr dringt das gleichmäßige, monotone Klopfen der Männer, die auf die Steine einschlagen. Er versucht sich aufzurichten. Der pochende Schmerz, da ist er wieder. Er blickt auf.
Eine Stimme ruft: “ Geh zurück zu den anderen Frauen. Du hast hier nichts zu suchen!“
SIE steht, die Hände im Stacheldrahtzaun, der sie voneinander trennt, verkrallt und starrt ihn an. Ihre Blicke treffen sich.
Graue Augen sind es.
Die grauen Augen erlöschen, als ein Schuss fällt.

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