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 Texte aller Art, Gedichte, Lyrik, Kurzgeschichten, Altbeiträge
Nathschlaeger ( gelöscht )
Beiträge:

06.05.2004 13:54
RE: Forrester Cane erinnerte sich Antworten

Forrester Cane erinnert sich


1

Forrester Cane starb im Juni 2003. Und bevor er starb und bis zu seinem Tod war der Mann fit wie ein Turnschuh, um es mal salopp auszudrücken. Als Forrester Cane in der Nacht zum 11. Juni für immer die Augen schloss, war er fünfundziebzig Jahre alt und lebte, weil er sich standhaft weigerte in ein sHeim zu ziehen, in seinem kleinen Haus am Stadtrand von Winterset, Iowa. Er hatte dort von seinem wandgroßen Wohnzimmerfenster einen schönen Blick auf eine der überdachten Brücken, die einen murmelnden Bach überspannte. Autoverkehr gab es hier fast nie; nur hin und wieder Sommerfrischler, die zu Pendergasts Pension in Old Hanley fuhren.
Forrester Cane hatte vier Söhne und elf Enkelkinder. Und er kannte die Namen aller Kinder bis zu seinem Tod. Abgesehen davon, dass Cane ein sehr fleißiger Zimmermann war und bis weit über das gesetzlich vorgeschriebene Pensionsalter arbeitete, war er auch ein begnadeter Geschichtenerzähler. Er liebte es, Geschichten zu erzählen. Vor allem seinen Enkeln. Und vor allem Geschichten, die ihm seine Kinder zu erzählen, verbieten wollten. Forrester Cane starb friedlich, dass ist wichtig, besonders wenn man bedenkt, dass er in den letzten achtziger Jahren erheblichen Zweifel daran hatte, ein friedliches Ende zu finden. Er hatte Zweifel daran, weil er zwischen 1988 und 1990 auf einer Baustelle in Shenandoah arbeitete. Und dort machte der knorrige, wettergegerbte Mann Erfahrungen, die er nicht einmal seinen Enkelkindern als Gutenacht Geschichten zumuten wollte. Er hatte sich diesbezüglich nur seinem Stammwirt anvertraut. Und seinem ältesten Sohn Paul. Sein Stammwirt hatte ihn ausgelacht und einfach noch ein Glas Schnaps über den Tresen geschoben, sein Sohn hatte sich nach dieser Geschichte zwei Monate nicht bei ihm blicken lassen und als er wiederkam, drängte er seinen Vater, in ein Heim zu ziehen und sich von einem Psychiater in Behandlung nehmen zu lassen.
Nun: Forrester Cane war bis zu seinem Tod bei bester geistiger Verfassung. Er war nicht krank. Das, was er erlebte allerdings schon.

2

Zwischen 1985 und 1995 arbeitete Forrester als Vormann bei der Tischlerei Ruffits & Partner. Forrester war von Montag bis Donnerstag ein guter Vormann, und so gerne man einem Verstorbenen auch nachsagen möchte, er sei der Beste gewesen; das war er nicht. Von Montags bis Donnerstags war er ok, am Freitag spielte er Karten und ab Freitagmittag war er bis Sonntag betrunken. Der Grund, warum man ihm nicht kündigte war, dass er immer wieder Aufträge an Land zog. Auch den Auftrag, das McFries Anwesen in Shenandoah zu renovieren, schrieb man ihm zu. Ob das wahr ist oder nicht, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Wahr ist jedoch, dass Forrester um 1987 im Herbst öfters in den Süden von Iowa fuhr, um dort zu jagen. Mit jagen selbst hatte der Mann wenig am Hut; vielmehr war es so, dass er einfach ein paar Tage Ruhe von seiner Frau wollte. Und in dieser Zeit hatte er mit den Besitzern einer kleinen Schlosserei westlich von Shenandoah Bekanntschaft gemacht. Bekanntschaft hieß für ihn und zu dieser Zeit, dass man zusammen saß, Wodga trank und sich dreckige Witze erzählte. Forrester bekam Wind davon, dass hier im Bezirk ein Großprojekt am Start war; die komplette Renovierung eines alten Herrensitzes, der umgewidmet wurde. Vier Fachfirmen waren bereits angeheuert: Elektriker, Schlosser, Maurer und Tapezierer. Forrester machte sich für die Tischlerei stark, in der er als Vormann diente und bekräftigte auch, dass sie sehr wohl Zimmermannsarbeiten ebenso gut hinkriegten wie Restaurierungen und allfällige Tischlerarbeiten. Ende Herbst hatte die Firma Ruffits & Partner den Auftrag, sämtliche Tischlerei- und Zimmermannsarbeiten am Haus zu machen. Pläne wurden übermittelt und über den recht milden und feuchten Winter hinweg wurden in den Tischlereibetrieben die Vorarbeiten erledigt. Im Frühjahr 1988 rückte Forrester Cane mit zwei Gesellen und drei Lehrlingen im letzten Lehrjahr an. Eine Großküche wurde in einem ausgemusterten Zelt der Army eingerichtet und die Bauherren zeigten sich hier ganz und gar nicht knickrig. Forrester Cane begann jeden Arbeitstag um sieben Uhr Morgens mit einer großen Tasse Kaffee und mit seinem Arbeitsbuch. Forrester machte dort Notizen über Arbeitsmaterial, Arbeitszeit und eventuelle Krankenstände. Einmal in der Woche fuhr er damit zum Firmensitz und die Daten wurden mit der Materialbeschaffung und der Lohnbuchhaltung abgeglichen. Und eines Tages, nur so aus Jux und Tollerei, kaufte sich Forrester in einem Gemischtwarenhandel in Shenandoah ein unliniertes Geschäftsbuch und begann, mit einem Zimmermannsbleistift Notizen zu machen, die nichts mit den üblichen verrechnungstechnischen Daten zu tun hatten sondern eher die Stimmung und Ereignisse auf der Baustelle dokumentierten. Am Anfang gab es wenig zu berichten: Forrester Cane machte halbseitige Notizen, pro Tag ein Blatt und schloss jeden Eintrag mit einem Strich unter dem Text ab. Er saß also jeden Morgen vor dem Zelt an einem Campingtisch, trank Kaffee, rauchte und machte zuerst die Pflicht, dann die Kür. Dazu wendete er etwa eine halbe Stunde auf. Der erste Eintrag, der sich von den anderen maßgeblich unterschied, stammte vom dreiundzwanzigsten Mai, 17:00 Uhr. Am Vortag waren die Lehrlinge in einem Lokal in der Stadt und hatten ein wenig getrunken. Um ehrlich zu sein, hatten sie sich einen ziemlichen Rausch angezüchtet und kamen am Dreiundzwanzigsten etwas zur spät zur Arbeit. Forrester beschloss zuerst, milde gestimmt vom warmen und sonnigen Morgen, in diesem Falle eine Ausnahme zu machen und keinen Eintrag zu setzen. Um neun Uhr morgens gingen alle an die Arbeit. Eine Lieferung mit Bauholz war gekommen, mit dem sie unter dem Dachstuhl ein Arbeitsgerüst hochziehen wollten. Die Bretter wurden mit Bauseilen über eine Winde nach oben gehievt und in einer Ecke des Dachbodens gelagert. Gegen elf Uhr wurde der Platz oben eng und einer der Gesellen rief zu Forrester runter, er solle mal seinen alten Arsch da hoch bewegen und ihnen helfen, das Ganze ein wenig zu sortieren. Forrester nahm, einem Instinkt folgend die beiden Bücher mit und marschierte durchs Haus zum großen Treppenhaus, als ihn die erste Woge erfasste: Ein Schauder, der Gänsehaut verursachte und wie eine Welle über ihn hinwegraste. Unsichtbar, nicht definierbar aber eindeutig unangenehm. Mit diesem Schauder kamen – wie Blitzlichter in einer Geisterbahn, die abscheuliches zeigen – grässliche Bilder, die ebenso schnell verschwanden, wie sie gekommen waren. Alles in allem eine Sekunde, die Forrester Cane schwanken ließ, als ob betrunken wäre, verkatert. Er hielt sich an der steinernen Brüstung der weit geschwungenen Treppe fest und stöhnte leise auf. Forrester war mit Sicherheit kein zimperlicher Mann, die Bilder vor seinem inneren Auge jedoch hinterließen in ihm einen Nachgeschmack von Ekel, Entrüstung und peinlicher Berührtheit. So unterschiedlich die Visionen in ihrer Art auch gewesen sein mochten, sie hatten einen gemeinsamen Nenner: Gier. Forrester schüttelte den Gedanken ab und ging weiter. Am Dachboden ging es um die Lagerung der Latten und Bretter, damit sie nicht beim erstellen des Gerüstes im Weg waren. Dann, als sie sich gerade an die Arbeit machten und das Holz zu Stapeln aufschichteten, kam eine weitere Welle und erfasste alle sechs: Forrester selbst, die zwei Gesellen und die drei Lehrlinge. Es war wie eine Vibration, die man in den Zahnfüllungen spürte, fast hörbar und zutiefst unangenehm. Es war keine Welle im eigentlichen Sinne sondern wie eine protoplasmatische Membrane, durchlässig aber angefüllt mit widerwärtigen Schrecken. Die Berührung selbst, als die Membrane den Dachboden von Westen nach Osten durchwanderte, dauerte wahrscheinlich nur einen Sekundenbruchteil, die Bilder die dann kamen, vibrierten und zuckten etwa fünf Minuten nach. Forrester erinnerte sich noch, wie die beiden Gesellen…

3

23.05.1988
Baubuch, Forrester, privat:

Sie blieben einfach wie erstarrt stehen. Ronald und Peter standen da und ich hörte sie wimmern. Ich hab noch nie Männer solche Geräusche machen gehört, nie. Das war das eine Bild. Das war echt. Ich sah einen Jungen, der in einen Industriehäxler hinabgelassen wurde und er konnte nicht schreien, da kam nur so ein: hhhmmm hhhmmm raus. Ich spürte fast seine Schmerzen, als seine Füße zwischen die rotierenden Messer gerieten. Im Flimmern dieser Welle, Gott steh mir bei, ich schreib es so wie es ist um es zu vergessen, sah ich für eine Sekunde oder kürzer eine Karawane von zerlumpten Gestalten über eine verseuchte, unirdische Landschaft ziehen, seelenlose Blicke, aber alles voller Leid und Weh. Die Leiber jung, die Augen alt im Schrecken, ich weiß nicht ob ich das verstehen würde, wenn ich es eines Tages lese. Albert, unser Nesthäkchen, der Kleinste, blieb in einer Ecke stehen und ich sah, dass er sich anmachte. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse der Angst und riss die Augen auf wie im Schock. Und die anderen beiden; Adrian und Tom, die fielen plötzlich übereinander her wie die Furien. Sie kreischten und spuckten und warfen sich Obszönitäten an den Kopf, die einer schamlosen Nutte die Röte ins Gesicht treiben würde.
Die Welle versank in der Wand und wir standen da, als ob wir gerade einen gewaltigen Schock erlebt hätten. Adrian und Tom wälzten sich am Boden, rissen sich an den Haaren und fauchten wie die Tiere. Ronald und Peter ließen das Brett fallen, das sie zu Albert raufschieben wollten und liefen die paar Schritte zu den zwei Streithähnen hin und rissen sie auseinander. Ich war schockiert: Adrian und Tom waren die besten Freunde seitdem sie sich kennen gelernt hatten. Zwei Spaßvögel der gutmütigen Art, wie ich finde.
Irgendwann beruhigten sie sich wieder. Ronald hielt Adrian hart im Griff, Peter hielt Tom. Den Jungs lief der Schweiß in Strömen über das Gesicht; plötzlich hörten sie auf, sich anzuschreien und fingen an zu weinen. Ronald und Peter ließen die Jungs gleichzeitig los und sahen sich verwirrt an. Dann sahen sie zu mir. Mit diesem Blick: Du bist der Älteste. Sag was. Tu was. Ich konnte bloß mit den Schultern zucken und dachte: Manche Häuser sind einfach bös. So ist das.
Die Jungs beruhigten sich schlussendlich, saßen am Boden und schnauften. Eine halbe Stunde später nahmen wir unsere Arbeit wieder auf.
Ich hoffe, dass hier kann keiner außer mir lesen. Ich hab meine Leute hier zu Stillschweigen verdonnert. Ich will nicht, dass man uns für eine Bande von Säufern und Trotteln hält.

25.05.1988
Baubuch Forrester, privat:

Ich habe noch nie in meiner ganzen Laufbahn als Tischler und Zimmermann eine derart problemlose Baustelle erlebt wie dieses Haus hier in Shenandoah, Iowa. Jeder Griff sitzt, jeder Nagel hält, kein Zuschnitt muss ausgebessert werden und wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, dass Haus will fertig gestellt werden. Es reckt sich uns direkt entgegen, schmiegt sich an unsere Handwerkskunst und erleichtert jeden Griff; eine dankbare Baustelle, wie ich sie wirklich noch nicht erlebt habe. Niemand schlägt sich den Daumen blutig, niemand bricht sich ein Bein oder fällt von einem Gerüst; alles geht leise, schnell und problemlos vonstatten.
Ich habe mir heute den Eintrag vom 23.04 durchgelesen und er erscheint mir wie der Eintrag eines Fremden. Ich habe keinen Bezug zu diesen Ereignissen unter dem Dachstuhl. Ich weiß, ich war dabei, ich war oben und ich erinnere mich auch. Aber alle Gefühle, die so ein Ereignis auslösen könnten, sind wie weggeblasen. Ich erinnere mich doch an Unbehagen und Angst, aber so, als ob im Fernsehen darüber berichtet worden wäre.
Wir kommen mit dem Gerüstbau gut voran und werden wahrscheinlich morgen um zehn damit fertig sein. Dann können wir uns an die eigentliche Arbeit machen.

15.05.1989
Baubuch Forrester, privat

Das Böse kann das Gute schonen, wenn es ihm dienlich ist, denke ich jetzt. Ich weiß jetzt, dass das Haus oder das, was „hinter“ dem Haus ist, von widerwärtigem Hass erfüllt ist. Ich weiß es seit gestern, denn gestern haben wir Albert verloren. Wie bringt man Eltern bei, dass ihr gerade mal achtzehnjähriger Sohn nicht nur verstorben, sondern dass auch seine Leiche unauffindbar ist? Ich weiß schon, wo Alberts Leib ist; er wandelt mit den anderen an dieser bizarren Küste an einem Meer voll flüssigem Schwermetall; ich habe das Meer gesehen und den perversen Mond darüber, ich habe den grässlichen Küstenstreifen gesehen und den Leuchtturm aus Stahl. Ich habe das Wimmern dieser Kinder und Jugendlichen gehört und es war lauter als das rauschende Klirren der metallischen Brandung.
Ich werde dies noch notieren, solange ich mich erinnern kann. Ich muss es aufschreiben. Damit ich weiß, dass ich nicht wahnsinnig bin.
Den anderen auf der Baustelle haben wir erzählt, Albert sei abgehauen. Liebesgeschichte oder so was. Wir versuchen ein „gutes“ Gesicht zu machen. Aber heute Morgen habe ich Tom und Adrian in einer schattigen Ecke des Dachbodens weinen gesehen. Sie haben sich umarmt; nein: umklammert. Und als ich sie sah, hatte ich Angst, dass sie nie wieder damit aufhören können.

Folgendes geschah:

Am 14. machten wir uns wie jeden Morgen bei gutem Wetter an die Arbeit. Wie ich schon erwähnte, scheint sich das Haus nach Fertigstellung zu sehnen. Und zwar so sehr, dass sogar das Wetter mitspielt; irgendwie. Trotz der guten Fortschritte war die Stimmung gedrückt. Es gab keinen unmittelbaren Anlass, war einfach so. In der Mittagspause gingen Adrian und Tom und die Gesellen runter zur Feldküche und ich zog mir Albert zur Seite, rauchte mir eine an und sah ihn so väterlich wie nur möglich an: Ich: Was los mit dir, Kid?
Er: Gar nix. Alles bestens, Mr. Cane.
Ich: Quatsch, meine Junge: Quatsch, du baust heute lauter Scheiße. Du bibberst wie Espenlaub, also, was los?
Er: Es ist, ach, ich sags nicht…
Ich: Raus damit, du Bandit.
Er lächelte verhalten und auch irgendwie so himmelschreiend ängstlich. In diesem Moment fühlte ich mich, als wäre ich sein Großvater. Ich war es nicht, aber ich fühlte mich so. Zuständig, ja: Verantwortlich.
Man kann es sehen, wenn jemand berührt werden will, da bin ich sicher. Man sieht es durch die Schichten von Stolz und Zorn, Angst und Verzagen, man sieht es durch Scham und Eitelkeit flimmern wie ein pochendes Herz. Albert wollte berührt werden, also nahm ich ihn in die Arme und kam mir in diesem einen Moment dabei kein bisschen blöd vor. Er sank in meine Umarmung und er zitterte. Mein Gott, wie der Junge zitterte. Ich sagte so was Sinnvolles wie: Nanana, wird ja nicht so schlimm sein, was ists denn?
Er: Ich hab Angst.

Und diesen geflüsterten Satz habe nicht nur ich gehört.

Ich: Vor was denn, Junge?
Er: Vor… weiß nicht, das Haus? Ich sehe es nicht aber es macht mir solche Angst dass ich… ach ich weiß auch nicht…

Dann kam die Vibration. Und diesmal kam sie nicht nur einfach aus dem alten Gebälk gesickert sondern schnalzte regelrecht auf uns zu. Ich sah sie wie ein Hitzeflimmern, nur kompakter, mit transparenten Farbschlieren. Ich sah, wie diese Vibration Albert erfasste, ehe sie uns auseinander riss und mich zu Boden schleuderte. Seine weißblonden Haare standen wie elektrisiert zu Berge, seine Augen flimmerten, sogar die Härchen auf seinen Oberarmen stellten sich auf. Ich rechnete damit, als nächstes erfasst zu werden; die vibrierende Membrane war ja in Bewegung. Aber sie traf mich nicht; sie bildete eine gerade Wand, in deren Mitte Albert eingefangen war. Er übergab sich und das Erbrochene kreiste um seinen Kopf und stob davon, löste sich auf. Albert leuchtete; nein, die Luft um ihn herum leuchtete in zartem rosa und hellem blau. Ich dachte: Das ist er, das sind die Farben, das sind seine Farben. Seine gottverdammte Aura. Und sie war rein wie ein Bergquell, unverdorben und geschmeidig, jugendlich und so… was für ein Wort? Dehnbar.
Irgendwie absorbierte diese schreckliche Membrane Alberts Licht und ich fing an zu schreien. Das war Diebstahl. Das war Betrug. Das war schockierend! Alles reine und direkte, seine Fußspuren im Sand der Geschichte, alles was ihn ausmacht, persönlich macht, erinnerbar macht uns umarmt, vereinnahmt, ärgert und freut; die Membrane saugte das aus ihm mit nuttenhafter Gier raus. Das… das Ding mästete sich an ihm.
Und sein Körper verfiel. Albert war Sprinter an der High School gewesen, das hatte er uns mal stolz erzählt. Als er da vor mir stand, schlotternd und grau in seiner Arbeitskleidung, wirkte er auf mich wie ein junger Greis. Radioaktiv verseucht und niedergemetzelt.
Seine Aura, oder was auch immer das war, ging in der ekelhaften Vibration der Membrane auf. Dann setzte sich diese Art Wand wieder in Bewegung, fuhr über mich hinweg und ich sah, wie Albert Biedermans Leib aus unserer Welt an den unirdischen Strand geschleudert wurde. Die Membrane blieb lange genug mit mir in Berührung um mir zu zeigen, was mit ihm geschah: Das tat sie mit Absicht, dessen bin ich mir sicher.
Albert lag dort auf schwarzen, öligen Felsen. Sein Leib war verrenkt wie der einer von Kindeswut zerstörten Puppe. Alle Knochen schienen gebrochen. Er rappelte sich trotzdem mit einem grässlichen Geheul auf. Er schwankte und starrte an der Küste entlang zu einem gleißenden Leuchtturm in der Ferne. Das Meer schimmerte metallisch und die Wellen bewegten sich wie in Zeitlupe. Es roch nach kochendem Metall. Dann begann Albert zu schreien und die Membrane löste sich von mir und versank in der Wand hinter mir. Ich schloss die Augen und wartete, bis das Schwindelgefühl verging. Als ich die Augen aufmachte, war Albert fort. Nichts von ihm war da; kein Schuh, keine Socke. Nur der Rest eines farbigen Flimmers.
Oder waren das nur meine Augen, die mir einen Streich spielten?

Daran wollte und konnte ich nicht glauben. Ich überlegte, was zu tun, zu sagen wäre, wie das Verschwinden unseres Nesthäkchens erklären? Als ich endlich zur Tür blickte, sah ich Adrian und Tom dort stehen, sie hatten es gesehen. Ich rappelte mich hoch und ging langsam auf sie zu. Meine Beine schmerzten, als ob ich geriebenes Glas in den Gelenken hätte. „Jungs“, sagte ich: „Jungs, kein Wort zu niemandem. Und jetzt hört mir gut zu…“
Ich sagte zu ihnen, was meiner Meinung nach am Besten war. Ich musste das tun, um selbst wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Ich befürchtete, dass der echte Schock erst kommen würde. Nachts, wenn wir schlafen gehen.
Ich erklärte mir selbst, dass an all dem, was ich gesehen und erlebt hatte, nichts poetisches war und trotzdem drängte sich mir eine Zeile aus Edgar Allen Poes Gedicht: "Der Rabe" auf: Am plutonischen Strand der Nacht. Dort war Albert jetzt, er wandelte trotz seiner gebrochenen Knochen seelenlos und bar jeden Trosts am plutonischen Strand der Nacht.
Und dieser Gedanke brachte mich dazu, zum ersten mal in meinem Leben als Erwachsener vor jemandem zu weinen. Die zwei Lehrlinge; Adrian und Tom umarmten mich und weinten mit mir.
Und als es keine Tränen mehr gab, die wir vergießen konnten, gingen wir hinaus, putzten uns unsere Nasen, wischten uns die Augen trocken und erfanden für die anderen hier, auch für die Gesellen, eine Geschichte: Alberts Flucht aus Liebe. Einfach auf und davon, der Gute. Uns brach es das Herz, aber die Geschichte wurde uns abgekauft. Glaube ich zumindest. Nichts desto trotz muss ich dafür Sorge tragen, dass seine Eltern davon erfahren. Oder etwa nicht? Sollen auch sie die Geschichte von Alberts Tollerei aus Liebe hören? Ewig bangen, ob er je wieder kommt? Nun gut, Albert war achtzehn Jahre alt. Er lebte noch bei den Eltern, sprach aber schon oft davon, sich bald eine eigene, kleine Wohnung in Cedar Falls anzumieten.
Ich denke, ich bleibe bei der Geschichte mit Alberts Liebesglück. Fair ist das nicht, ich weiß. Aber wäre es fair, Albert Biedermans Angehörige mit einer derart unglaublichen Geschichte zu quälen?
Nein, denke ich.
Ich werde nichts mehr in dieses Buch schreiben. Ich schließe es weg. Und ich hoffe, ich bete zu Gott, dass ich nie wieder, niemals wieder etwas von diesem verdammten Haus hören werde, wenn wir fertig sind. Und ich hoffe, dass wir anderen alle mit heiler Haut davonkommen.

4

Das taten sie.
Die Tischler- und Zimmermannsarbeiten waren im August weitgehend abgeschlossen, sie rückten ab und schwiegen. Es gab Drohungen seitens Alberts Eltern, weil ihrer Meinung nach die Aufsichtspflicht verletzt worden war. Aber Albert war eben achtzehn Jahre alt. Alt genug um in den Staaten hinzugehen wohin es ihm beliebte zu gehen. Nach den groben Arbeiten kamen drei Kunsttischler, um sich um die Restaurierung antiker Möbel zu kümmern. Forrester Cane nahm keine Aufträge mehr an, die außer Haus durchzuführen waren. Er kümmerte sich verstärkt intern um den Zuschnitt und die Vorbereitungsarbeiten. Oft sahen ihn die Leute am Holzblatz hinter der Werkstatt sitzen, selbstgedrehte Zigaretten rauchen und in die Ferne starren.
Forrester Cane erinnerte sich Zeit seines Lebens, wo Albert Biederman war: Am plutonischen Strand der Nacht. Und oft, all zu oft dachte er, es sei wohl besser, in dem Gewissen zu leben, dass der Junge einfach nur tot sei. Und nicht dort mit seinem zerbrochenen Leib und ohne jeden Trost wandeln musste, wo er nun wandelte.

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