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Dieses Thema hat 0 Antworten
und wurde 333 mal aufgerufen
 Texte aller Art, Gedichte, Lyrik, Kurzgeschichten, Altbeiträge
Gästin. ( gelöscht )
Beiträge:

26.08.2004 22:37
RE: Ich bin ein Scheusal, die Welt eine alte Hexe Antworten

Es ist die Unerträglichkeit der Krankheit, die sie so zerdrückt machte. Und mehr noch: die Hilflosigkeit, vor der sie zurückschreckte und die Abenteuerlosigkeit. Hätte sie nicht Morgen krank werden können, dann hätte sie zumindest einen Grund gehabt.
Ich glaube nicht, dass ihr bewusst war, wieviel sie wirklich damit verpasste. Und ich frage mich, was mit den vielen Chancen passiert ist, die sie schon versäumt hatte. Die Blitzartigkeit, mit der sie vorüber waren, ist erschreckend.
Heute weinte sie, weil sie nicht wollte. Wenn das, was man will, dem im Weg steht, was man nicht kann, was ist es dann?
Ihr Gefrage wurde kontraproduktiv, weil ihr die Taschentücher ausgingen. (Ich glaube, in Wirklichkeit hatte sie zum Weinen einfach keine Lust mehr.)
Über wirklich wichtige Dinge schrieb sie nicht. Dinge, die nur sie etwas angingen, gingen niemanden etwas an. Man musste seine Geschichten wahren. Aber:
Es herrscht das alte Gesetz. Je mehr man gibt, desto mehr bekommt man. Sie erbrach Worte auf dem Papier, schüttelte sie aus dem Stift, leerte sich selbst und hatte doch das Gefühl, daran zu wachsen und sich zu füllen. Vielleicht waren Worte wie Stelzen, mit deren Hilfe man dem Himmel näher kam.
Jedenfalls wollte sie nicht krank sein und mittlerweile glaube ich, dass sie es dieses Mal wirklich nicht wollte. Synchron dazu wollte er sie sehen, mit schwarz umrandeten Augenhöhlen. Sie hätte einen Weltatlas herausgeholt, hätte eine Seite aufgeschlagen, mit geschlossenen Augen getippt und gesagt: Hier endet der Himmel.
Erläuternde Worte? verschluckt
Wir wollten noch den Zottelteppich sauber machen, sie mit mir zusammen, aber wir beide sind so selten wirklich zusammen, doch ich habe ihr Bein, sie meinen Arm und deswegen können wir nur zusammen den Zottelteppich reinigen.
Ich schreibe wie eine Straßenbahn, wenn ich von ihr rede. Fahre ganz schnell, halte nur manchmal an und drehe mich um. Es steigen Passagiere ein, Hunderte von Passagieren, aber niemand steigt aus. Ob das am Wind liegt, der sie alle an die Sitze klebt?
Sie hatte Haare wie Dornröschen. Auch wenn sie es nicht hören wollte, es war so. Dabei weiß ich gar nicht, wie Dornröschens Haare aussehen. Ich vermute ja nur. Wieviel trennt eigentlich eine Vermutung vom Wissen? Drei Kubikmeter Beweismaterial oder sieben Sicherheitsgefühle des Herzens? Der Unterschied zwischen Materialisten und Surrealisten besteht darin, dass sie zwei verschiedene Gesichtshälften haben, eine linke und eine rechte.
Es regnet jetzt wieder Sonnenstrahlen. Sagt sie. Ich halte nicht viel von ihrem Kitsch, sie nicht viel von meiner Abgeklärtheit.
"Man muss doch träumen können!" sagt sie immer und ich sehe sie dann spöttisch an und sage ihr, wo wir leben. Damit ist sie einverstanden, aber ich merke, dass es ihr egal ist und ich sage: "Glaubst du, ER liebt Träumer?" und dann sieht sie mich an, möchte mich Scheusal nennen und alte Hexe, doch fällt ihr dann ein, dass ich ihr Bein habe, sie meinen Arm.
Was dann entsteht ist das Bild einer traurigen Träumerin, mit Tränen in den Augen, weil sie weiß, dass sie schwächer scheint, vor mir, vor dieser Welt. Doch ich bin ein Scheusal, die Welt eine alte Hexe.

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