Fassungslos starrte Friedhelm Hellbrock auf den vergilbten Zettel in seiner Hand. Er war dabei, den Nachlass seines Vaters zu ordnen. Neben alten Fotos, einer Versicherungspolice, einem längst abgelaufenen Reisepass und dem Familienstammbuch hatte er dabei auch diese alte Quittung gefunden. „Eine Taschenuhr, Silber vergoldet, mit Gravur, 157,- DM, 13.12.1973“, stand darauf. Das ganze war mit einem Stempel eines Juweliergeschäfts in der Schützenstraße versehen. Friedhelm kannte den Laden, den gab es noch immer.
„Das ist ja wohl das Allerletzte, Vater!“, murmelte er leise, als könne der Verstorbene ihn hören, während er die Taschenuhr, die mit einer dünnen Goldkette an seiner Gürtelschlaufe befestigt war, hervorzog. Sie war sein kostbarster Besitz, zumindest war sie das bis eben gewesen. Als er dreizehn Jahre alt geworden war, hatte sein Vater ihn zur Seite genommen und ihm diese Uhr geschenkt.
„Das ist eine Familientradition“, hatte er erklärt. „Dein Ururgroßvater Sigismund hat sie seinerzeit vom Kaiser Wilhelm II. höchstpersönlich verliehen bekommen. Er hat dem Kaiser nämlich damals das Leben gerettet“, und ihm stolz die Gravur in der goldenen Uhr gezeigt: „Meinem tapferen Retter, Sigismund Hellbrock, zu eigen. S.M. 1893.“ „S.M. steht für ‚Seine Majestät’“, hatte der Vater erklärt. Friedhelm hatte die Uhr damals mit unglaublicher Ehrfurcht entgegengenommen und geschworen, sie zu hüten wie seinen Augapfel und sie später einmal an seinen eigenen ältesten Sohn weiter zu geben, wenn der dreizehn Jahre alt würde.
Immer und immer wieder hatte er sich von seinem Vater erzählen lassen, wie Sigismund damals heldenhaft ins Wasser gesprungen war, um den Kaiser vor dem Ertrinken zu retten, obwohl es März gewesen war und der Neckar kalt und reißend vom Schmelzwasser. Jedes Wort hatte er in sich aufgesogen, um es später seinem Sohn genauso erzählen zu können. Als er in Tübingen studiert hatte, hatte er alte Zeitschriftenarchive durchsucht, in der Hoffnung, vielleicht einen Artikel über den Bootsunfall des Kaisers und seine heldenhafte Rettung durch den armen Schuhmacher Sigismund Hellbrock zu entdecken. Er war nie fündig geworden. Und jetzt wusste er auch, warum. Die Uhr war eine Fälschung, ein übler Scherz, den sein Vater sich mit ihm erlaubt hatte.
Wütend knallte Friedhelm Hellbrock die Schreibtischschublade. Für heute war ihm die Lust vergangen. Sein Verhältnis zu seinem Vater war schwierig gewesen. Er war vom alten Schlag gewesen, hatte selten Emotionen gezeigt. Stets hatte Friedhelm das Gefühl gehabt, ihm nicht zu genügen. Die Uhr war ihm vielleicht auch deshalb immer so kostbar gewesen. Sie war der Beweis, dass er seinem Vater doch gut genug war, gut genug, die Familientradition fortzusetzen. Nie hatte er sich seinem Vater so nahe gefühlt, wie an dem Abend, als er ihm die Uhr übergeben hatte. Und jetzt? Alles Betrug!
Draußen war es schon dunkel und der Nieselregen passte zu Friedhelms Stimmung, als dieser den Heimweg einschlug. Ohne, dass er es bemerkte, trugen seine Füße ihn jedoch nicht auf kürzestem Weg nach Hause. In dem kleinen Juweliergeschäft in der Schützenstraße brannte noch Licht, und ein Glockenspiel über der Ladentür klingelte leise, als Friedhelm Hellbrock eintrat.
Ein sehr alter Mann war gerade dabei, die Auslagen in einem Stahlschrank wegzuschließen. Er schaute Friedhelm an. „Ich schließe eigentlich gerade. Aber wenn es schnell geht, was kann ich denn für Sie tun?“ „Ja, wissen Sie…“, setzte Friedhelm an. „Ich weiß gar nicht, ob Sie mir wirklich weiterhelfen können.“ „Ja, junger Mann, wenn Sie mir nicht ein bisschen mehr verraten, dann weiß ich das auch nicht“, sagte der Alte und lächelte freundlich. Friedhelm riss sich zusammen. „Ich wollte nur fragen, ob Sie diese Uhr verkauft und graviert haben.“ Er hielt sie dem Juwelier hin. Dieser betrachtete sie zunächst von außen. „Kann sein. Ist ein recht häufiges Modell, das haben wir früher oft verkauft.“ Als er sie jedoch aufklappte und die Gravur im Deckel las, wurde seine Stimme sanft und er lächelte noch mehr. „Ja, diese Uhr habe ich graviert. Daran kann ich mich noch erinnern. Das muss jetzt fast dreißig Jahre her sein.“ „Einunddreißig“, sagte Friedhelm. „Die haben Sie von ihrem Vater bekommen, richtig?“ „Ja, richtig! Und wissen Sie, was er mir dazu erzählt hat?“ „Dass ein Vorfahr von ihnen dem Kaiser das Leben gerettet hat und dass es Familientradition ist, diese Uhr an den ältesten Sohn weiterzugeben?“ „Das hat er Ihnen erzählt?“
Das wurde ja immer besser. Nicht nur, dass sein Vater sich einen üblen Scherz mit ihm erlaubt hatte, er hatte es scheinbar auch noch herumerzählt, so dass sich auch andere Leute über ihn lustig machen konnten.
Der Juwelier nickte. „Ja, so etwas in der Art hat er erzählt. Ich weiß noch, dass mich das damals unglaublich gerührt hat.“ „Gerührt? Wohl eher belustigt.“ Der Alte sah Friedhelm verständnislos an. „Wieso belustigt? Nein, ich fand es so eine schöne Idee. Aber sagen Sie, seit wann wissen Sie denn, dass die Uhr nicht echt ist?“ „Seit gerade eben“, erklärte Friedhelm. „Mein Vater ist letzte Woche gestorben. Ich bin seine Papiere durchgegangen und habe dabei zufällig die Rechnung gefunden. Soviel zur großartigen Familientradition und darauf, wie stolz er auf mich war.“ Er konnte nicht vermeiden, dass seine Stimme bebte.
„Das mit ihrem Vater tut mir leid. Ich kannte ihn ja kaum. Aber ich kann Ihnen versichern, dass er wirklich sehr stolz auf Sie gewesen ist. Er konnte Ihnen das nur nie sagen. Als er damals bei mir war, da hat er gesagt, dass er Ihnen so gerne ein ganz besonderes Geschenk machen würde. Etwas, das man eben nicht einfach so in einem Laden kaufen kann.“ „Und da hat er mal eben so eine ‚Familientradition’ erfunden?“ Friedhelm wusste noch immer nicht, was er von der Sache halten sollte. „Ja. Weil er wollte, dass sie stolz auf ihre Familie sein können. Wissen Sie, dass ihr Vater seinen Vater nicht gekannt hat?“ „Er ist im Krieg gefallen, als er noch sehr jung war“, erklärte Friedhelm und während er es aussprach fiel ihm auf, dass alleine deshalb die Geschichte mit der Familientradition ja nicht stimmen konnte. „Schlimmer!“, erklärte der Juwelier. „Sein Vater hat ihre Großmutter verlassen als der Junge zwei Jahre alt war. Durchgebrannt. In der damaligen Zeit. Ihr Vater hat mir gesagt, dass er sich so geschämt hat für seinen Vater. Und dass er nicht wollte, dass Sie sich auch so schämen müssen. Deshalb hat der die Geschichte mit der Uhr erfunden. Und die Familientradition.“
Friedhelm schwieg. Er spürte, wie seine Augen feucht wurden. „Entschuldigen Sie!“, bat er und wandte sich ab. „Ihr Vater hat Sie sehr geliebt. Ich wünschte, mein Vater hätte mir jemals ein solches Geschenk gemacht“, sagte der Juwelier. Friedhelm begann zu schluchzen. Keine Träne hatte er bisher über den Tod seines Vaters vergießen können, aber jetzt brach der Schmerz aus ihm hervor. Er weinte um die schönen Erlebnisse, die er mit seinem Vater gehabt hatte und noch mehr um die, die sie wegen ihrer ständigen Missverständnisse nicht gehabt hatten.
Der alte Juwelier legte ihm die Hand auf den Rücken und ließ ihn weinen. Als Friedhelms Schluchzen leiser wurde, reichte er ihm ein Taschentuch. „Es tut mir leid“, sagte Friedhelm. „Normalerweise platze ich nicht so mit meinen Gefühlen heraus.“ „Das ist kein Grund, sich zu entschuldigen.“ „Ich danke Ihnen. Sie haben mir sehr geholfen.“ „Das habe ich gerne gemacht“, sagte der Alte und begleitete Friedhelm zur Tür.
Zwei Wochen später brannten auf einem Kuchen auf dem Hellbrockschen Küchentisch dreizehn Kerzen. Mit klopfendem Herzen packte Moritz seine Geschenke aus. Als er zu der Taschenuhr kam, sah sein Vater ihn freundlich an. „Das ist eine ganz besondere Uhr“, erklärte er. „Die hat dein Urururgroßvater Sigismund Hellbrock von Kaiser Wilhelm II. persönlich geschenkt bekommen. Und das kam so…“
Es ist halt so: ich stehe nicht drauf, lese sie kaum und habe nur im Zuge meiner Autorenschule welche schreiben müssen. Ich brauche die "Weiten" eines Romans. Ich akzeptiere aber jene, die sie mögen und auch jene, die sie verfassen. PvO