Sie sind vermutlich noch nicht im Forum angemeldet - Klicken Sie hier um sich kostenlos anzumelden  



 

Sie können sich hier anmelden
Dieses Thema hat 12 Antworten
und wurde 460 mal aufgerufen
 Texte aller Art, Gedichte, Lyrik, Kurzgeschichten, Altbeiträge
Capella Offline




Beiträge: 152

28.12.2004 22:09
RE: Neumondmärchen Antworten

Weiden sind heimtückische Bäume. Ihr wisst es nicht, denn ihr seht sie immer nur friedlich am Wasser stehen, ihre langen dünnen Zweige der im Mondlicht silbrig glänzenden Oberfläche entgegenstreckend. Doch bei Neumond, bei Neumond verlassen sie ihren angestammten Platz, recken knarrend ihre verschlungenen Glieder und stapfen langsam aber unaufhaltsam auf die Häuser der Menschen zu. Ihr glaubt mir nicht, ich sehe es euch an. Aber fragt eure Kinder. Fragt sie, wie oft sie schon in einer mondlosen Nacht voll Schrecken aus dem Schlaf erwacht sind, weil lange dürre Finger vor ihre Fensterscheiben klopften, ganz leise und sacht zunächst, aber mit immer größerer Beharrlichkeit. Und fragt sie nach den Gesichtern aus Holz und Blättern, die sie durch das Glas angestarrt haben. So sind sie, die Weiden. Und sie beschränken sich nicht darauf, Kinder zu erschrecken. Sie haben weit schlimmeres im Sinn und lauern nur auf die richtige Gelegenheit.

Ich hätte es verhindert, wenn Anna oder ihr Mann Klaus auch nur einmal stehen geblieben wären, um mir zuzuhören. Ich hätte sie gewarnt. Oft genug habe ich es versucht. Aber sie waren taub, so wie ihr überhaupt alle immer taub seid für das, was ich euch zu sagen habe.

Wie habe ich mich für die beiden gefreut, als sie im letzten Sommer hier eingezogen sind. Sie waren so voller Kraft und Liebe und so jung. Tag für Tag erfüllte Annas Lachen den alten Garten, während sie Beete anlegte und Unkraut jätete, Fallobst sammelte und Wäsche zum Trocknen in die Sonne hing. Abend für Abend kehrte Klaus heim zu ihr und stürzte sich mit Feuereifer darauf, das baufällige Haus zu reparieren und sein Lachen mischte sich mit ihrem und mit dem Geräusch von Sägen, Hobeln und Hämmern.

Natürlich konnte ich nicht alles sehen, was die beiden miteinander taten. Es ging mich ja auch nicht wirklich etwas an. Doch dass ihre Liebe Früchte trug, konnte ich Annas Leib schon im Winter deutlich ansehen. Natürlich war ich nicht die einzige, die es sah. Auch die Weiden am Bach, ganz in der hintersten Ecke des Gartens, wussten Bescheid. Ich spürte geradezu, wie ihre Gier und Vorfreude wuchs, wann immer Anna ihnen beim Wäscheaufhängen oder Unkraut jäten nahe kam. Sie hätte es auch bemerken können, wenn sie dem Wispern der Weidenblätter mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte.

Als Annas Leib immer runder wurde, kam sie seltener in den Garten. Dafür übernahm Klaus mit dem Einsetzen des Frühjahrs viele ihrer Arbeiten. Oft blieb er auch bei mir stehen und fast hoffte ich, er hätte mich verstanden, als er eines Morgens die Beete unter den Schlafzimmerfenstern umgrub und neu bepflanzte. Doch er pflanzte nur fleißige Lieschen, hübsch anzuschauen, aber dumm wie Bohnenstroh und als Schutz nun wirklich keinen Pfifferling wert.

So konnte ich mich nicht wirklich für die beiden freuen, als schließlich der kleine Mischa zur Welt kam. Es war Mai und die Tage waren schon wieder lang und warm. Voller Stolz trugen Anna und Klaus ihren Sohn im Garten herum, nicht ahnend, dass sie damit die böse Begierde der Weiden noch mehr anstacheln würden.

Nachts ließen sie, stellt euch nur vor wie töricht, das Kinderzimmerfenster halb geöffnet. Dabei weiß doch jeder, wie gut ein Säugling riecht, und dass der Geruch die anlockt, die Böses im Sinn haben. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis die alten Weiden sich auf den Weg machen würden, um ihr böses Spiel zu treiben. Sie warteten bis zur nächsten Neumondnacht.

Ich konnte hören, wie sich ihre Wurzeln mit leisem Schmatzen aus dem Schlick am Bachufer lösten. Langsam, ganz langsam, setzten sie knarrend einen Wurzelfuß vor den anderen und bewegten sich so auf das Haus zu.

Ein Kauz ließ seinen Warnruf erschallen. „Wenn ein Kauz ruft, stirbt ein Mensch!“, sagen die Alten. Sie haben recht damit. Aber es ist nicht die Schuld des Kauzes, er will nur Gutes tun. Doch auf ihn hört ihr ja genauso wenig, wie auf mich.

Schon hatten die Weiden die Hauswand erreicht. Warum nur hörten Anna und Klaus das Klappern nicht, als ihre höchsten Äste an die Dachrinne schlugen? Warum sah keiner von ihnen die dürren, langen Schatten vor den Fenstern? Die erste Weide streckte ihre dünnen langen Zweige durch den Fensterspalt. Ihre Spießgesellinnen taten es ihr nach.

Jetzt wurde das Baby wach, doch sein Versuch zu schreien, als es das Böse auf sich zukommen sah, wurde sogleich durch Weidenblätter erstickt, die sich in seinen Mund schoben. Dünne, biegsame Weidenruten schlangen sich um seinen Hals. Es braucht so wenig, einen Säugling zu töten -- so ein kleiner, hilfloser Körper.

Niemand weiß, warum die Weiden das tun, warum es ihnen solche Befriedigung bereitet, junges unschuldiges Leben zu nehmen. Ebenso unbemerkt, wie sie gekommen waren, zogen sich die Bäume wieder ans Bachbett zurück.

Kurz darauf ging das Licht im Kinderzimmer an. Es war Zeit für Anna, Mischa zu stillen, der in dieser Nacht so besonders ruhig in seinem Bett zu schlummern schien. Erst als Anna näher trat, sah sie, dass er blau angelaufen war. Ihr verzweifelter Schrei weckte Klaus.

Später tauchten die flackernden blauen Lichter auf dem Polizei- und Notarztwagen den Garten in unheimliches Licht. „Dort!“, versuchte ich ihnen zuzurufen. „Seht ihr nicht, dass die Weiden an anderer Stelle wurzeln als zuvor? Schaut euch doch den aufgerissenen Boden an!“ Doch natürlich hörten sie mich nicht. Sie verluden den kleinen Leichnam in einem Plastiksarg. Dann führten sie Anna und Klaus ab. „Schrecklich, wie oft Eltern mit ihrem Neugeborenen überfordert sind“, sagt der Notarzt zu einem der Polizisten. „Das ist doch kein Grund, ein Kind zu töten. Dann holt man sich eben Hilfe“, antwortet dieser, sichtlich erschüttert.

Inzwischen ist der Garten verwildert. Klaus und Anna leben hier nicht mehr. Ich hätte ihnen geholfen, aber sie haben ja nicht auf mich gehört. Ich bin nur eine alte knorrige Eberesche, die am Ende des Gartens steht. Neben die Schlafzimmerfenster sollt ihr uns pflanzen! Nur da können wir euch beschützen.

[ Editiert von Capella am 29.12.04 16:41 ]

AutorPeterTernes Offline




Beiträge: 3.162

29.12.2004 10:18
#2 RE: Neumondmärchen Antworten

Gut geschrieben und ich wüsste nicht, was ich stilistisch verbessern sollte; aber gefallen hat mir die Geschichte diesmal gar nicht. Der Anfang ist gut und es „roch" nach Märchen, nach einer lustigen Geschichte. Das Ende? Wem willst Du das erzählen? Doch nicht etwa Kindern?
PvO

Capella Offline




Beiträge: 152

29.12.2004 10:45
#3 RE: Neumondmärchen Antworten

Hallo Peter,

nein, Kindern sicher nicht. Auch jungen oder werdenden Eltern wohl eher nicht (obwohl das den Verkauf von Ebereschenschößlingen ankurbeln könnte ). Aber Märchen sind in meinen Augen auch nicht unbedingt und in erster Linie etwas für Kinder. Es gibt schöne Kindermärchen, sicher. Aber die meisten klassischen Märchen behandeln ausgesprochene Erwachsenenthemen und wurden ursprünglich auch von Erwachsenen für Erwachsene geschrieben.

Dies ist aber (trotz des Titel) gar nicht so sehr ein Märchen, sondern mehr eine Gruselgeschichte.

gruß,
Capella

brombeeer Offline




Beiträge: 135

29.12.2004 11:09
#4 RE: Neumondmärchen Antworten

Ich finde diese Gruselgeschichte sehr schön beschrieben. Du brinst eine gute Atmosphäre herüber, besonders die Stelle

"Ich konnte hören, wie sich ihre Wurzeln mit leisem Schmatzen aus dem Schlick am Bachufer lösten. Langsam, ganz langsam, setzten sie knarrend einen Wurzelfuß vor den anderen und bewegten sich so auf das Haus zu."

bringt das Geschehen eindrucksvoll herüber.

Mich würde interessieren, wie du auf die Idee der Geschichte gekommen bist? Ich meine, ao was denkt man ja nicht alle Tage. Aber weiter so, es gefällt mir

Lieben Gruß

brombeeer

Capella Offline




Beiträge: 152

29.12.2004 11:48
#5 RE: Neumondmärchen Antworten

Hi Brombeer,

danke für deinen Kommentar. Schön, dass es dir gefallen hat.

Hm, wie bin ich auf die Idee gekommen? Lass mich mal nachdenken. Eigentlich ist es ein Mix aus mehreren Ideen. Den ersten Absatz, also dieses "Weiden sind heimtückische Bäume", den hab ich schon vor längerer Zeit geschrieben, ohne zu wissen, wer das sagt oder warum. Einfach, weil ich finde, Weiden sehen häufig sehr unheimlich aus. Von allen Bäumen, die so rumstehen, haben Weiden die menschenähnlichste Form, gerade, wenn sie so vorgebeugt über dem Wasser stehen. An einem Weiher in Mönchengladbach (wo ich ursprünglich herkomme) gibt es eine riesige alte Weide, die aussieht wie ein (sehr großer, so 5 m oder mehr hoch) alter Mann mit Buckel und langen Armen. Ich erinnere mich, dass ich mit meinem damaligen Freund mal in dem Park gesessen haben und wir und vorgestellt haben, er läuft jetzt langsam los, auf uns zu.

Den Volksglauben, dass man Ebereschen neben Schlaf- bzw. Kinderzimmerfenster pflanzt, gibt es wirklich, zumindest habe ich das mehrfach irgendwo gelesen. Ebereschen gelten, trotz ihres recht unscheinbaren Aussehens, als sehr magische Bäume, vor allem im keltischen Kulturkreis. Und wer sollte über die bösen Absichten von Weiden eher bescheid wissen als ein anderer Baum?

Ich habe zuerst gezögert, die Eberesche zur Erzählerin und Protagonistin zu machen, weil sie ja zur Passivität verdammt ist. Aber ich glaube, dass macht ein Stück der Stimmung der Geschichte aus. Ich denke, der Leser wird sich sehr früh denken können, was passiert (ok, von der Verhaftung mal abgesehen, vielleicht), Andeutungen macht die Eberesche ja genug, aber er ist eben dazu verdammt, das ganze trotzdem nur zu beobachten.

gruß,
Capella

Nathschlaeger ( gelöscht )
Beiträge:

29.12.2004 16:19
#6 RE: Neumondmärchen Antworten

Zitat:
Ihr wisst es nicht, denn ihr seht sie immer nur friedlich im Wasser stehen
Zitat:

Ich würde nicht schreiben: im Wasser, sondern: am Wasser.

Ansonsten ist die Geschichte wirklich sehr sehr stimmungsvoll. Und gerade die Perspektive macht viel aus. Zur Untätigkeit verdammt zusehen müssen, wie junges Glück zerstört wird, das hat viel erzählerische Kraft, die Du sehr toll umgesetzt hast.

lg/Peter

Capella Offline




Beiträge: 152

29.12.2004 16:40
#7 RE: Neumondmärchen Antworten

Hi Peter,

schön, dass es dir gefällt.

Ja, du hast recht, "am" ist besser als "im" (sollte da eigentlich auch stehen, glaub ich, ist eher ein Vertipper, ich ändere das)

gruß,
Capella

Schreiberlilly Offline



Beiträge: 875

29.12.2004 18:37
#8 RE: Neumondmärchen Antworten

Hallo,

geschrieben ist die Geschichte wirklich gut, aber der Inhalt hat mich schon etwas erschreckt. Das würde ich meinen Kindern nie vorlesen. Ich habe 3 Kids, mein Jüngste ist knapp 2 Jahre alt. Gott sein Dank haben wir keine Bäume neben den Kinderzimmern zu stehen, grins!
Ich schreibe ja vorwiegend nur Kindergeschichten, auch Märchen sind dabei. Aber in meinen Texten geht es immer fröhlich und lustig zu. Eine Lehrerin unserer Grundschule hat mir bei einer Lesung mal gesagt, sie findet es besonders gut, dass meine Texte ganz ohne Gewalt auskommen. Ich finde, Gewalt usw. sehen die Kids im TV genug, da muss man sowas auch nicht noch schreiben.

Ansonsten wie gesagt, gut gescrieben.

Capella Offline




Beiträge: 152

29.12.2004 19:25
#9 RE: Neumondmärchen Antworten

Hi Conny,

nein, um Gottes Willen, du sollst die Geschichte auch bloß nicht irgendwelchen Kindern vorlesen. (Wenn man mir die als Kind vorgelesen hätte, hätte ich wahrscheinlich wochenlang nicht mehr ruhig geschlafen).

Das ist keine Kindergeschichte, auch wenn da "märchen" im Titel vorkommt.

gruß,
Capella

Schreiberling Offline




Beiträge: 2.222

30.12.2004 10:26
#10 RE: Neumondmärchen Antworten

Hallo zusammen,
also Christian Andersens Märchen habe ich mit zehn Jahren gelesen und fand sie gruselig. Ja ich war sauer, wenn es kein Happy End gab. Aber auf der anderen Seite sollte man seinen Kindern nicht nur Geschichten erzählen, die ein gutes Ende finden. Auch in der Abgrenzung zum "Bösen" kann ein Erkenntnisgewinn stecken.

Viele Grüße und einen guten Rutsch ins neue Jahr 2005
wünscht
Schreiberling

Capella Offline




Beiträge: 152

30.12.2004 11:17
#11 RE: Neumondmärchen Antworten

Hi,

natürlich soll man Kindern nicht nur Weichspüler-Geschichten mit Happy-End zu lesen geben. Aber soweit ich mich erinnere, werde bei H.C. Andersen keine Säuglinge erwürgt, oder? Das finde ich doch etwas viel des Guten für Kinderohren Zumindest hatte ich Kinder wirklich nicht als Zielpublikum vor Augen, als ich das geschrieben habe.

Ich erinnere mich an "Die roten Schuhe" (ist das auch von Andersen?), da hackt man dem Mädel am Ende die Füße ab. Boah, fand ich das damals böse (finde ich bei näherem Nachdenken jetzt noch), das hatte ich auf Hörspielcassette.

gruß,
Capella

Wanderin Offline



Beiträge: 179

30.12.2004 11:40
#12 RE: Neumondmärchen Antworten

Hallo Capella!
Du kannst es ja "Neumondsage" nennen.

Lieber Gruß,
Wanderin

Schreiberling Offline




Beiträge: 2.222

30.12.2004 17:13
#13 RE: Neumondmärchen Antworten

Hallo Capella,
also mein gruseligstes Märchen war das vom tapferen Zinnsoldaten, der für seine Liebe letztendlich im Ofen verbrannte. Das fand ich mindest sehr grausam, da für mich zumindest in der Kindheit alle Akteure einer "Geschichte" lebten.
Über das Ende dieses Märchens war ich so zornig, dass ich das Buch erst einmal weg legte.
Will damit nur sagen, dass Kinder gruselige und böse Dinge auch in Geschichten sehen, die wir "Erwachsenen" als banal ansehen. Andersherum gehen sie auch mit Dingen unbefangener um, die uns erschrecken würden.

Viele Grüße
vom Schreiberling

 Sprung  
Xobor Einfach ein eigenes Forum erstellen | ©Xobor.de
Datenschutz