"Herzstillstand" ist eine ziemlich neue Geschichte von mir. Eigentlich schreibe ich nicht eine solche Art von Geschichten, ich bin eher im Bereich der Märchen beheimatet. Aber irgendwie...Hat es mich einfach gepackt. Es sollte nur ein Versuch sein, und schwupp, stand eine komplette Geschichte auf dem Papier. Es würde mich wirklich interessieren, was ihr davon haltet.
Liebe Grüße, Papillon/ Bianca
Herzstillstand
Als ich an diesem Morgen aufwachte, fiel es mir besonders schwer, in den Spiegel zu sehen. Ich hatte einen furchtbaren Albtraum gehabt und mein Gesicht war darin zu dem eines Monsters geworden, blutig, das nackte, faulende Fleisch im Gesicht tragend, ekelerregend und angsteinflößend. Mit einem Schrei fuhr ich nach oben und sah mich mit klopfendem Herzen um.
Mein Herzschlag war so laut, dass ich ihn hören konnte.
Der Raum war dunkel und leer. Ich hatte mich auf einem alten Bett schlafen gelegt und über mir kreiste ein ölig verschmierter Ventilator, der die sommerliche Schwüle aus dem Zimmer vertreiben sollte.
Ich atmete tief ein und wieder aus- dann begann ich zu weinen. So heftig, dass ich von Weinkrämpfen geschüttelt wurde.
Ich fasste unter mein Kopfkissen. Da lag sie noch, die Waffe. Meine Kleidung lag auf dem Boden, von hässlichen Blutflecken verunstaltet. Fast hatten sie ihre eigene Schönheit- als seien die Flecken rote Schmetterlinge, die sich auf meinen Sachen niedergelassen hatten.
Ich wusste nicht, was nun zu tun war. Ich hatte mich in dieser alten Absteige versteckt und wusste nicht, wie es nun weitergehen sollte.
Ich bin besudelt, ich bin schuldig.
Nein, schuldig reicht nicht aus, um meinen momentanen Zustand zu beschreiben.
Ich habe mich selbst verleugnet, habe mich selbst verloren. Diese Person, die mich aus dem Spiegel anblickt, bin nicht ich. Es sind meine Gesichtzüge, meine Augen, mein verfilztes Haar, aber über all das hat sich das Gespenst des Todes gelegt und blickt mich an. Das Gespenst der Schuld und der Schande. Es spiegelt sich in meinen Augen, es vibriert in meiner Stimme mit, es kontrolliert meine Träume und Gedanken.
"Verbrecherin!!", ruft es.
"Mörderin."
Unmöglich, ich kann diese Sachen nicht mehr anziehen. Ich stopfe sie in eine Plastiktüte. Dann nehme ich die restliche Munition aus der Pistole und werfe die Waffe aus dem Fenster. An meiner Absteige läuft ein Fluss vorbei. Ich sehe zu, wie die Waffe im ersten Licht des Tages aufleuchtet wie ein silbernes Fischlein und danach untergeht. Fort.
Ich frage meine Zimmernachbarin, ob sie mir etwas von ihrer Kleidung verkaufen würde. Sie sieht mich entsetzt an. Wahrscheinlich kann sie das Gespenst auch sehen. Sie nickt, als wollte sie sagen: "Nehmen sie, was sie brauchen. Aber verschwinden sie so schnell wie möglich von hier."
Ich drücke ihr mein letztes Geld in die Hand und gehe. Außer der fremden Kleidung trage ich nichts an meinem Leib.
Fast den ganzen Tag streife ich ziellos durch die Stadt und versuche, meine schlechten Gefühle zu vergessen, indem ich mich der herrschenden Reizüberflutung hingebe. Stündlich geht es mir schlechter- wie ein Film, der immer und immer wieder abgespielt wird, laufen die Geschehnisse des gestrigen Tages vor meinem inneren Auge ab. Ich könnte schreien und zucke jedes Mal aufs Neue zusammen, wenn das schreckliche Szenario seinen Höhepunkt erreicht. Ich sehe auf meine Hände herab, die Werkzeuge, die mir dabei halfen, diese Tat auszuführen. Es sind die gleichen Hände, die mich von der ersten Sekunde meines Lebens an begleiteten.
Nun, ich bin nicht mehr ich. Damit muss ich mich wohl abfinden.
Die Schuld, die auf mir lastet, werde ich mit mir tragen bis an mein Lebensende. Das Schlimme ist, dass diese Schuld völlig auf meiner Verantwortung basiert. Ich kann nicht behaupten, dass ich keine Wahl hatte. Sicher, es ging schnell, viel zu schnell, aber ich konnte wählen.
Ich habe mich für mein Leben entschieden und nun trage ich diese Last auf meinem Rücken.
Ich frage mich, ob das Gerechtigkeit sein kann. Sich zwischen der Schuld und dem eigenen Leben entscheiden zu müssen.
Die Last ist schwer und schmutzig.
Drei Tage vergingen auf diese Weise. Ich hätte nicht geglaubt, dass mich nach dieser Zeit noch jemand wieder erkannt hätte. Von meiner ehemals gepflegten Erscheinung war nicht mehr viel übrig geblieben. Ich war schmutzig, meine Kleider waren schmutzig, meine Seele war schmutzig. Der Schmutz steckte in mir und er umgab mich, bei jedem Schritt, bei jedem Tritt, den ich tat. Ich musste um Jahre gealtert sein. ich konnte nicht mehr in den Spiegel blicken, mir wurde bei diesem Anblick übel.
Wo war ich? Wo war mein Selbst geblieben?
Natürlich hatte ich diesen verhängnisvollen Augenblick immer wieder vor meinem geistigen Auge abspielen lassen. Hatte meine Rolle geändert. War vom Täter zum Opfer geworden, hatte mich umbringen lassen. Nun, ich verlor mein Leben. Ich verlor alles, was ich besaß. Doch ich konnte nicht unterscheiden, welches Schicksal mir lieber gewesen wäre. Welches Übel dem anderen vorzuziehen war- der Tod oder die lebenslange Schuld. Habe ich nicht richtig entschieden? Und war die Schuld wirklich so groß und gewichtig, wie ich annahm?
"Bleiben sie stehen. Ich sagte, bewegen sie sich nicht. Gut. Die Hände nach oben. Nach oben, sag ich!!"
Da stand ich nun. Der Polizist kam langsam auf mich zu. Er musterte mich misstrauisch, von Kopf bis Fuß. Er kannte Bilder von mir, wie ich vor der Tat ausgesehen haben musste. Er sprach mich mit meinem Namen an und ich nickte. Ich fühlte mich zu schwach, um ihn anzulügen, geschweige denn, wegzurennen.
Noch etwas drei Meter trennten uns. Man sah ihm an, dass er es nicht fassen konnte. Das er mein Gesicht abtastete und es mit dem Bild in seinen Gedanken verglich. Misstrauen spiegelte sich in seinen Augen, vielleicht auch Mitleid. Ich konnte es nicht genau erkennen.
Tatsache war, dass ich nicht mehr klar denken konnte. Oder doch?
Ich wartete, bis er nahe genug war. Die Hände hatte ich erhoben, wie er gesagt hatte. Er hatte Mitleid mit mir, er sah in meine wirren Augen und fragte mich, ob alles in Ordnung sei. Ich nickte und hielt ihm meine Handgelenke hin, damit er die Handschellen darum legen konnte. Er behielt mich im Auge, doch er wurde leichtsinnig. Er fühlte sich sicher. Kurz bevor sich die silbernen Ringe um meine Handgelenke schlossen, schlug ich zu-mit meinem Kopf. Es tat weh, aber es war nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte. Jedenfalls für mich. Der Polizist kippte nach hinten. Noch im Fallen zog ich ihm die Füße weg, indem ich ihm ein Bein stellte. Danach kettete ich ihn mit den Handschellen fest und floh. Er fluchte benommen und schrie, doch ich überhörte es und rannte.
Meine Aktion hatte eine unangenehmem Kette von Ereignissen in Gang gesetzt. Wie eine Reihe von Dominosteinen, deren ersten Stein ich umgestoßen hatte.
Eine flüchtige Person erregt immer Aufsehen. Tatsache ist, dass meine Verfolger nicht schliefen und sämtliche Beamten mobilisiert hatten, die einsatzbereit waren. Das blaue Licht der Einsatzfahrzeuge zuckte durch die Straßen. Das Geräusch unzähliger Sirenen brach sich an den Häuserwänden und verursachte ein unangenehmes Echo. Ich rannte davon, so schnell, wie es mir möglich war.
Hatte ich vor einiger Zeit noch geglaubt, dass meine Kraft aufgebraucht sein musste, so wurde ich jetzt vom Gegenteil überzeugt. Ich lief, so schnell ich konnte. Die Umgebung flog an mir vorüber wie ein verzerrter Film, der alle Wirklichkeit verloren hatte. Mein Herz schlug mit der Wucht von Bombenschlägen in meinem Brustkorb und trieb das Blut wie Flutwellen durch meinen Körper. Mehrmals geriet ich ins Stolpern, doch mein Schwung trug mich weiter und riss mich wieder auf die Füße. Flucht, auf der Flucht, Beute sein. Eine leichtfüßige Antilope, die vor dem Geparden davonrennt.
Mit einem Male fühlte ich mich so frei. Die Schnelligkeit wurde zu einem Rausch, der mich gefangen nahm und nach dem ich durstete wie ein wildes Tier. Ich beschleunigte und wurde sogar noch etwas schneller.
Eine Kugel schlug dicht neben mir auf dem Boden ein. Sie schossen auf mich. Unter anderen Umständen wäre diese Tatsache ein Schock für mich gewesen. Jetzt war es wie eine zusätzliche Treibkraft, die meinen Rausch noch unterstützte. Ich wurde noch etwas schneller. Ich hatte das Gefühl, dass ich jeden Moment abheben und fliegen würde. Nun erreichte ich bereits die Innenstadt und warf mich zwischen die Menschenmassen. Sie gaben mir Schutz und verhinderten, dass weiter auf mich geschossen wurde. Erschrocken wichen die Passanten zur Seite, als ich im scheinbar ziellosen Amoklauf durch sie hindurch preschte. Ich schubste und stieß um mich, setzte mich mit waghalsigen Sprüngen über Hindernisse hinweg. Ich hörte die Schreie der Beamten hinter mir und beschleunigte ein letztes Mal meine Schritte. Sie kamen von hinten und am Ende der Straße erwarteten mich bereits ihre Kollegen. Ich würde ihnen in die Fänge laufen, das war sicher. Ein letztes Mal holte ich keuchend Luft und schlug einen Haken, um auf die Straße hinauszulaufen. Dann schloss ich die Augen, um nicht in das Gesicht des Autofahrers blicken zu müssen, dessen Fahrzeug nun auf mich zuraste.
Als die Motorhaube des Wagens mich wie der Faustschlag eines Riesen traf, spürte ich keinen Schmerz. Der Rausch hatte mich betäubt.
Es musste mich zwei- oder dreimal durch die Luft geschleudert haben. Ich war auf dem Rücken aufgekommen, so dass ich nur noch mein Gesicht nach oben zu wenden brauchte, um direkt in die Sonne und den strahlend blauen Sommerhimmel blicken zu können. Für ein paar Sekunden döste ich weg, meine Wahrnehmung trübte ein und ich drohte das Bewusstsein zu verlieren. Ich kämpfte die Schwärze nieder und versuchte, wieder wach zu werden.
Ich verspürte keinerlei Schmerzen, doch mein Körper schien wie gelähmt. Absolut bewegungsunfähig. Etwas verkrampfte sich in mir und warmes Blut kletterte meine Speiseröhre nach oben. Ich fühlte mich wie eine Kerzenflamme, die im Begriff war, zu erlöschen. Doch ich ließ sie nicht ausgehen, sog die letzte Kraft aus mir, um sie immer wieder aufs neue aufflammen zu lassen. Gesichter waren über mir erschienen, ihre Umrisse waren dunkel und verschwommen. Sie standen direkt im Sonnenlicht wie Todesengel. Ich keuchte und würgte, schnappte nach Luft. Jemand verständigte per Funk einen Krankenwagen. Ihre Stimmen waren ein heilloses Chaos, die nur verzerrt an meine Ohren drangen. Ich schloss die Augen.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort auf dem Asphalt lag. Ich genoss das Gefühl, Buße getan zu haben. Jeder neu aufflammende Schmerz war eine Wohltat und schien ein Stück meiner Schuld abzutragen. Das Leben lief aus mir heraus, meine Kleidung färbte sich rot und jeder Tropfen der roten Flüssigkeit bedeutete einen Verlust an Kraft und Stärke. Ich fühlte mich immer schwächer und spürte, wie meine Wahrnehmung aussetzte, wie der Himmel immer dunkler und die Stimmen um mich immer leiser wurden.
Ich verlor das Bewusstsein, als mein Herzschlag aussetzte.
Klinisch Tod zu sein ist eine Erfahrung, die man nicht oft im Leben macht, wenn überhaupt. In diesem Sinne galt ich als gestorben, doch so fühlte es sich nicht an. Der Tod muss etwas anderes sein, etwas, dass noch eines Tages kommen wird. Nicht jetzt, nicht heute, und auch nicht morgen. Auch nicht übermorgen und auch nicht nächstes Jahr, geschweige denn in zehn Jahren. Das glaube ich nach meinen Erlebnissen zumindest.
Nach medizinischer Definition war ich tot. Sämtliche lebenserhaltende Funktionen in mir waren zum Stillstand gekommen, doch was ist das schon für ein Tod? Spielt er sich nicht auf einer anderen Ebene ab, einer Ebene, die dem Mediziner verschlossen bleibt?
Wie auch immer, der Tod ist das "Ende" eines Kreislaufs. Alles hat einmal ein Ende und alles hat einmal einen Anfang. Nach dem Tod folgte der Neubeginn und nun sitze ich hier und freue mich meines neuen Lebens.
Schließlich ist jede Geburt ein Wunder, auch die meinige.
Sehr schön geschrieben - auch eine gute Idee mit den Rückblicken und hast das gelungen umgesetzt. Dann das "Crescendo" im letzten Drittel, wo sich die Spannung steigerte. Hab es in einem Rutsch durchgelesen. Du solltest öfters solche Geistesblitze haben. Auch wenn es nicht Dein Metier ist.
Danke Felix, hab mich echt über deine Antwort gefreut! Man merkt ein bißchen den "Hohlbein´schen Einfluß" raus (vermute ich mal), aber es hat wirklich Spaß gemacht, die Geschichte zu schreiben.