Das erste, was ihr an diesem Morgen auffiel, war das blasse, von einem weißblauen Schimmer durchzogenen Tageslicht, dass in ihr Zimmer geflossen war; es war sehr hell, draußen musste es wieder geschneit haben. Sie erinnerte sich schemenhaft an ihren Traum, der ein seltsames Gefühl in ihr hinterlassen hatte, nicht mehr und nicht weniger; keine Bilder oder bewusste Erinnerungen, die zwar möglich und sicherlich vorhanden, aber nicht greifbar waren. Ihr Blick wanderte auf die Uhr. Als sie sich aufsetzte, bemerkte sie, dass der Winter Eisblumen an ihre Fensterscheibe gemalt hatte.
Sie ging langsam durch die Straßen der Altstadt. Der Frühling ließ dieses Jahr auf sich warten, er war nun eher so etwas wie ein Spätling, der nicht über den Schnee und den Winter siegen konnte. Weiße Dampfwolken tanzten vor ihrem geröteten Gesicht, es war bitterkalt. Der Wind blies ihr entgegen und kroch wie flüssiges Eis in ihren wollenen Mantel. Sie fröstelte erneut und dachte an das, was noch zu tun war und wo sie hin wollte. Ihre Schritte schienen mehr Kraft zu kosten, als eigentlich von Nöten war. Ihr Blick wanderte an den Fassaden der Häuser entlang, an den geschlossenen Fensterscheiben, zeichnete die Umrisse der Gesichter nach, die ihr entgegenkamen, den Verlauf der Strasse, die Bewegungen graubraunen Rauches, der sich aus den Kaminen wand, den Verlauf der Eiszapfen an den Dachrinnen und Fensterläden. Es waren so viele Gesichter, die an ihr vorbeiströmten, jedes fremd, jedes anders, manche sich ähnlich, aber niemals gleich; die Augen auf ein Ziel gerichtet, in Gedanken versunken, sich umsehend, sich beeilend, schlendernd, leichtfüßig, schleppend. Manchmal wird sie von anderen Körpern berührt. Sie stellt sich vor, wie warm diese sind.
Sie wartet am Bahnhof. Eine Stunde, vielleicht auch zwei. Die Zeit scheint mal langsamer, mal schneller zu fließen. Sie sitzt auf einer Bank und sieht auf die Schienen hinaus. Ein Bahnhof ist ein seltsamer Ort, denkt sie. Sie sieht die vielen Menschen, die hier zusammenkommen, die alle diesen einen Ort gemeinsam haben, nur um sich danach in alle Richtungen zu zerstreuen. Vielleicht auch, um sich hier wieder zu sehen.
Sie wartet nicht auf einen Zug. Sie wartet auch nicht auf eine Person, die hier aussteigt oder einsteigt. Jedenfalls keine bestimmte Person. Auf was sie wartet, weiß sie nicht sicher. Sie weiß nur, dass sie es tut. Ein Zug nach dem anderen verlässt den Bahnhof, einer nach dem anderen erreicht ihn. Es sind scheinbar tausende von Gesichtern, in denen ihre Blicke verschwinden. Die meisten sind fremd. Manche lösen Assoziationen oder Erinnerungen in ihr aus. Aber keines ist ihr vertraut. Es ist interessant. Sie sieht ihnen zu. Sie beobachtet, wie sie ihre Gepäckstücke tragen, miteinander sprechen, ihre Körper bewegen. Sie vergleicht, stellt Unterschiede und Gemeinsamkeiten fest. Sie beschäftigt sich damit, welche Menschen sie zusammen bringen würde, wenn sie ein Computerprogramm wäre und den idealen Partner für einen Menschen aussuchen müsste.Sie legt Kriterien fest und verwirft sie wieder. Sie beobachtet Kinder, die die Welt innerhalb des Bahnhofs erkunden. Es sind auch Kinder dabei, die sich als Erwachsene tarnen, deren Augen glänzen, wenn sie in die kleine bunte Welt des Bahnhofes eintauchen. Sie legt langsam den Kopf in den Nacken. Die Decke erhebt sich als gläsernes Gewölbe viele Meter über ihren Augen. Das Tageslicht sickert hindurch. Wie es hier wohl in der Nacht aussieht, denkt sie. Wie ist es, wenn das Sternenlicht hindurch fällt, wenn Glas und Himmel im Dunklen miteinander verschmelzen und den Raum ins Unendliche hineinwachsen lassen. Sie war noch nie Nachts auf einem Bahnhof. Sie sieht den Menschen zu, die in ihren Zügen sitzen und auf die Abfahrt warten. Die mit anderen sprechen, in Büchern lesen oder in Zeitschriften blättern. Wie sie essen, schlafen oder nachdenken. Dann geschieht es: Ein Blick streift den ihrigen, nur für eine Sekunde blickt sie in fremde, lächelnde Augen. Es fühlt sich warm an. Dann ist es vorbei. Sie denkt, man wird für eine Sekunde Teil einer anderen Welt. Sie denkt: Für eine Sekunde berühren sich zwei Welten. Sie denkt, es ist, als ob man jemanden in einem Fluss die Hand gibt und sie gleich wieder los lässt. Und je öfter und länger das geschieht, desto näher rücken die Welten aneinander.
Sie weiß nicht mehr, was sie danach getan hat. Erinnerungen sind ihr gekommen und haben sie überwältigt. Sie hat den Kopf zur Seite gedreht, als sie am Friedhof vorbeigegangen ist. Es ist nicht der, auf dem sie Abschied genommen hat, aber sie kann trotzdem nicht hinsehen. Stundenlang irrt sie durch die Stadt, bis sie den Kirchturm erreicht. Er ragt wie ein stummer Riese in den Himmel. Hier findet sie sich ein, wenn sie die Orientierung verliert. Der Turm überragt die ganze Stadt, von jedem Punkt aus ist er zu sehen. Jetzt ist sie hier, hat einen Platz zum kurzen Verweilen gefunden. Aber auch der Turm kann ihr nicht sagen, wohin sie nun gehen soll. Sie geht noch weitere Stunden durch die Stadt. Bald wird es dämmern. Der Himmel ist grau. Sie hat Angst. Angst davor, heute Abend einzuschlafen. Sie greift in ihre Taschen, doch sie sind leer. Sie dreht sich um, der Turm ist noch in Sichtweite, aber er entfernt sich. Plötzlich hebt sie die Hände an ihr Gesicht und will es abtasten. Sie will wissen, wie sie aussieht, obwohl sie es eigentlich wissen müsste. In ihrem Kopf wirbeln so viele Gedanken durcheinander, dass sie erneut die Orientierung verliert. Sie fürchtet sich vor dieser Leere, die langsam von ihr Besitz zu ergreifen scheint. Sie schält die unnötigen Gedanken ab und steht vor einem Nichts, dass sie nicht fassen kann. Die Veränderung geht weiter. Sie fragt sich, wer sie wirklich ist. Sie will es wissen, in sich hineinsehen. Sie will sich in die Augen sehen. Der Wind heult durch die Strassen. Sie geht auf eine Schaufensterscheibe zu. Ihre Gestalt spiegelt sich darin, sie will sich ansehen. Als ihre Gesichtskonturen darin sichtbar werden, streckt sie die Hand danach aus. Sie will ihr Spiegelbild berühren, dort, wo der Schmerz sitzt. Doch als ihre Finger die Scheibe berühren, sinkt diese in sich zusammen. Lautlos und schnell wird sie zu einem Häufchen grauer Asche, das der Wind davonträgt.
Die Veränderung setzt sich immer noch fort. Langsam sinken die Fensterscheiben der Häuser ein, lautlos, schnell, wie die Scheibe zuvor. Alles wird sie zu Staub. Der Putz der Häuser beginnt zu bröckeln, das Straßenpflaster wird nachgiebig und knirscht unter ihren Schuhen. Wie Kartenhäuser sinken die Gebäude um sie herum zu grauem Staub zusammen, brechen ein, zerfallen mit rasender Leichtigkeit. Als der Turm fällt, sieht sie erschrocken auf. Sie beginnt zu rufen, sie will die Menschen um sich herum aufmerksam machen auf das, was um sie geschieht. Es ist niemand da, der auf ihre Worte reagiert. Sie sind nutzlos, sie scheinen aus ihrem Mund zu kommen und sich ebenfalls in Staub zu verwandeln. Ihre Stimme versagt. Neben ihr stürzt der Körper eines Menschen ein, es greift auf die Menschen über. Die Gesichter der Stadt beginnen sich aufzulösen; bald ist sie alleine.
Sie weiß nicht mehr, wann es aufgehört hat. Als es leer um sie wird, beginnt sie zu weinen. Sie beginnt, zu trauern, in den See in ihr hineinzugreifen und an die Oberfläche zu holen, was sie versenkt hat. Sie übersieht die Leere, die zu ihr gekommen ist und neben ihr steht, die Hand nach ihr ausgestreckt. Sie erinnert sich an ihren Traum der letzten Nacht. Wie die Leere langsam näher kam und sie umkreist hat, an ihr empor gekrochen ist um durch ihre Haut, ihren Mund und ihre Augen zu dringen, um sich in ihr auszubreiten. Doch sie tut es nicht. Sie kann ihre Nähe spüren, aber sie ist nicht mehr gefährlich. Sie steht nun abseits und wartet darauf, wieder fortgeschickt zu werden.
Die Zeit fließt weiter. Mal langsamer, mal schneller. Als wäre sie zäh und flüssig zugleich.
Sie hat begonnen, sich eine neue Welt zu formen. Aus Asche lässt sie auferstehen, was sie einst gekannt hat; sie bedeckt es mit neuen Dingen, schmückt es, baut es aus. Es tut gut, denkt sie. Sie genießt es, das Gefühl, kein Schatten mehr zu sein. Zu leben.
Die Leere steht abseits, auf einem Hügel und beobachtet sie. Ihre Augen folgen den formenden Händen, während die Uhr begonnen hat, sich wieder in Bewegung zu setzten. Sie wartet, doch sie weiß, dass sie nicht mehr zu warten braucht. Als sie sich umdreht und die Schaffende zurücklässt, geht sie im Bewusstsein, vorerst nicht gebraucht zu werden.