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Dieses Thema hat 2 Antworten
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 Texte aller Art, Gedichte, Lyrik, Kurzgeschichten, Altbeiträge
nathschlaeger Offline



Beiträge: 164

11.08.2005 14:36
RE: Der leere Himmel Antworten

Es ist Nacht. Das Bild ist körnig wie bei einem nachkolorierten Schwarzweißfilm. Wir schweben in etwa dreißig Meter Höhe über der Wüste von New Mexico. Die Tonspur knistert etwas, könnt ihr das hören, habt ihr es? Gut. Auf der Tonspur läuft: „Fly me to the moon.” von Frank Sinatra. Die Wüste bietet nicht viel, der Himmel ist klar und von Sternen übersäht. Noch.

Fly me to the moon, and let me play among the stars...

Wir drehen etwas nach Westen ab und unser Flug führt uns über einen hohen Zaun. Die Umzäunung wirkt nicht militärisch sondern eher kennzeichnend: Hier beginnt ein Grundstück, sagt der Zaun allein dadurch, dass er da ist. In der Ferne können wir die Umrisse von etwas großem ausmachen. Wir kommen näher und sehen ein riesiges Radioteleskop. Die Antenne hat ungefähr einen Durchmesser von fünfundzwanzig Metern. Wir steigen etwas höher und sehen ein riesiges Array von gleichgroßen Antennen, die in Ypsilon Form angeordnet sind. Es sind siebenundzwanzig Antennen. Zwei davon scheinen in einer Art Parkposition zu schlummern. Die anderen lauschen in den Himmel. Wir fliegen an einer frisch geteerten Strasse entlang, die von der Ypsilonachse der Anlage nach Norden führt und kommen nach etwa einer Minute Flug zu einem Gebäudekomplex, der sich in der Mitte einer gepflegten Parkanlage befindet. Wir hören durch Frank Sinatras Song das wusch wusch wusch eines Rasensprengers.
Jetzt fliegen wir über die kleineren Gebäude hinweg und sinken langsam beim Hauptgebäude ab. Fast überall ist es dunkel. Nur an der Westseite des Gebäudes, dessen Fassade mit viel Glas im Stil der späten neunziger Jahre verkleidet ist, brennt Licht. Wir sinken noch weiter, verharren kurz und zoomen näher ran. Da, im ersten Stock brennt Licht. Wir kommen noch näher und halten den Atem an. Dann schauen wir durch die Scheibe.

Let me see what spring is like on Jupiter and Mars...

Wir sehen einen großen, schlanken und recht gutaussehenden Asiaten. Er hat eine rahmenlose Brille auf, er hat den Kopf kahlgeschoren und trägt überweite Jeans und ein graues, ungebügeltes T-Shirt. Er schlummert gemütlich in einem breiten und sehr bequem aussehenden Computersessel. Er hat die Beine hochgelegt. Die Schuhe stehen neben der rechten Rolle des Drehsessels, auf dem er sitzt.
Er zieht die Nase kraus und murmelt etwas. Er scheint gerade aufzuwachen.

Mike Green war Computerassistent für die Astronomen des SETI Programms. Er war kein Astronom, kein Wissenschaftler, aber aufgrund von Personalmangel hatte der fünfundzwanzigjährige Japaner die Nachtschicht im Kontrollraum des VLA, des Very Large Array in der Wüste von New Mexiko übernommen. Das Budget ließ für solche Sondereinsätze großzügige Überstundengehälter zu und Mike konnte jeden Cent gut brauchen. Er war, wie so mancher Scherzkeks bemerkte, für ein Schlitzauge ein bemerkenswert großer Kerl. Mike war dabei, sich einen guten Ruf als Techniker zu erwerben, da kamen ihm solche Sondereinsätze gerade recht. SETI hatte im April 2006 Schüsselzeit gebucht und konnte bis Juni ins All lauschen. Vor sechs Monaten hatte SETI einen sehr wohlhabenden und auch sehr einflussreichen Sponsor gefunden, der nicht nur finanzielle Probleme vom Tisch gewischt, sondern auch mit ein paar Telefonaten und Emails bürokratische Hürden aus dem Weg geräumt hatte.
Natürlich war dies alles zu schön um wahr zu sein. Mike ging davon aus, dass der Traum ein jähes Ende finden würde denn es gab nicht minder einflussreiche Stimmen, die dafür plädierten, diesen Unsinn auf VLA ein für allemal zu beenden und das Array für seriöse Wissenschaften zu nutzen.

Die anderen schliefen. Es waren zwei emeritierte Professoren der UCLA da und drei Studenten der University of Maine. Weiters waren drei Studenten des MIT da, die ihren Aufenthalt auf VLA als Teil ihrer Abschlussarbeit in Radiologie sahen. Von all den Anwesenden die sich zurzeit auf VLA aufhielten, glaubte eigentlich nur einer der Professoren an die Möglichkeit von außerirdischem Leben. Nun, Mike Green war der Idee nicht abgeneigt, konnte aber die Verbissenheit von Professor Esswood nicht ganz nachvollziehen. Mike Green beantwortete die oft an ihn gestellte Frage, ob er an Außerirdische glaubte, gerne mit einem Zitat aus dem Film: Contact: „Es wäre doch eine ungeheure Platzverschwendung, wenn wir allein im Universum wären, nicht?“

Also hatte Mike Green seine Nachtschicht um 19:00 begonnen. Mit ihm waren jetzt noch Professor Arrowhead und Toshi Shanida, einer der Studenten vom MIT auf dem Very Large Array. Die anderen hatten sich in einen Jeep gesetzt und waren auf ein mittelschweres Besäufnis in die nächstgelegene Stadt gefahren. Socorro lag etwa fünfzig Meilen südöstlich vom VLA. Dort gab es ein paar Bars und normalerweise fuhr Toshi bei jeder Gelegenheit mit, um sich dann gleich von den anderen abzuseilen und in einer der der Schwulenbars nach dem Mann für die Nacht zu fahnden. Doch diesmal war er hier geblieben, weil er sich eine Erkältung zugezogen hatte. Behauptete er. Mike vermutete, dass die Erkältung nur die halbe Wahrheit war. Er war eher davon überzeugt, dass Toshi sich zuviel Koks und Speed in die Nase geschaufelt hatte und nun einfach sterbenskrank war. Egal. Sie mochten sich und Mike kritisierte Toshis Lebensstil in keinster Weise.

Gegen 22:00 Uhr hatte Mike es sich im großen und bequemen Computersessel bequem gemacht und nach einem letzten Check der Systeme die Beine hochgelegt. Die Kaffeetasse hatte er auf der Konsole links neben der Tastatur abgestellt. Dann hatte er die Brille abgenommen, seine Augen gerieben und beschlossen, für etwa zwanzig Minuten Augenpflege zu machen. Also ein Nickerchen.
SETI unterstützte derzeit eine junge Professorin aus München, die eine erst vor kurzem entdeckte Galaxie untersuchte, der man den klingenden und fantasievollen Namen: NGC-A344.566-AC gegeben hatte. Margareta Steinbeck war für zwei Wochen nach München zurückgekehrt um Berichte abzuliefern und neue Gelder aufzutreiben. SETI spendete ihr vier Schüsseln des VLA, die weiter auf NGC-A344.566-AC gerichtet waren, während bis auf zwei Schüsseln, die in Parkposition standen, alle auf den Neutronenstern Magentars ausgerichtet waren. Im Dezember 2005 hatte Magentars die Aufmerksamkeit der Astronomen erregt, als es einen gigantischen Energieausstoß gegeben hatte. Das Magnetfeld von Magentars war Millionen Mal stärker als das der Erde. Und SETI hatte sich im Februar 2006 für Magentars zu interessieren begonnen, als man im Grundrauschen eine merkwürdige Metrik feststellte. Oder besser gesagt, vermutete.

Mike Green erwachte gegen zwei Uhr früh. Das hatte drei Gründe, die ihm unabhängig voneinander aus dem Schlaf kitzelten. Seine Waden gribbelten, als er ein wenig die Position veränderte und wieder Blut durch die Adern floss. Das war so unangenehm, dass er nochmals die Position veränderte und mit den Zehen spielte. Er hatte umsichtigerweise die Schuhe ausgezogen und neben dem Sessel abgestellt. Ihm schien, als hätte er von einem alten Film geträumt, in dem man den Frank Sinatra Song: Fly me to the moon aus dem off hören konnte.
Zweitens war seine Blase randvoll und er dachte, wenn er nicht sofort die nächste Toilette aufsuchen würde, dann würde sie schlicht und einfach platzen.
Beim Zehenwackeln kam er an der leeren Kaffeetasse an und stupste sie von der Konsole. Sie zerschellte in der Stille mit einem unnatürlich lauten Knall. Mike wuchtete sich mit einem verärgerten Knurren hoch und stemmte sich aus dem Stuhl. Er fluchte.
Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und plante: Zuerst aufs Klo. Das hatte Priorität. Dann würde er in die Küche gehen um Schaufel und Besen zu holen um den Dreck wegzumachen. Wieder eine Kaffeetasse im Eimer. Esswood, der alte Hamster, zählte die Tassen. Das war ein Tick von ihm, der auf seine aktiven Tage in der University of New Jersey zurückzuführen war. Irgendwer, so hatte er mal launig erzählt, hatte dort in den neunziger Jahren mit Vorliebe aus der Bibliothek und aus dem Konferenzraum Kaffeetassen und Klopapierrollen entwendet.
Als Mike von der Toilette zurück kam und in die Küche flanierte um den Besen und die kleine Plastikschaufel zu holen, beschlich ihn ein vages Gefühl von Angst. Er empfand es noch nicht als Angst vor einer Bedrohung sondern eher als den Schatten einer Erwartung. Irgendetwas hatte sich geändert. So wie die meisten Menschen nahm Mike Green Veränderungen oder Bedrohungen nur dann wahr, wenn sie sich sinnlich wahrnehmbar präsentierten – möglicherweise den Status Quo penetrierten und das Gleichgewicht störten; indem sie sich zum gewohnten Bild addierten und Platz einnahmen, der ihnen nicht zustand. Unheil, nahm Mike an, stellte sich immer durch sinnlich wahrnehmbare Ereignisse dar: Blitz und Donner, laute Geräusche, oder auch leises Gezischel, herumwuseln von Insekten beispielsweise. Sehr selten zeichneten sich umfassende Ereignisse dadurch aus, dass irgendetwas fehlte – die Realität um eine Instanz betrogen wurde – kurz: dass etwas aus dem großen Bild namens Status Quo entfernt worden war.
Aber weil etwas fehlte und nicht, weil etwas zum gewohnten Umfeld dazugekommen war, steigerte sich Mike Greens Nervosität rapide, während er sich einen Kaffee runterließ. Er bückte sich zu der Lade unter der Spüle, holte Kehricht und Schaufel hervor und richtete sich auf. Dann sah er zu der Wand an der der Esstisch stand und musterte zu tausendsten Mal die kindischen Zeichnungen und astronomischen Karten, die auf eine Korkplatte gepinnt waren.
Und während er die Ausdrucke der Sternkarten betrachtete, mit der Schaufel und dem Kehricht in der Hand, sickerte ihm langsam ins Bewusstsein, was ihn so nervös machte. Es war nicht etwas, dass zu seiner bekannten Realität dazukam. Im Gegenteil. Ihm fiel auf, dass etwas fehlte. Und zwar etwas, dass für ihn so selbstverständlich geworden war, dass er sogar damit schlafen konnte.
Er ging zur Kaffeemaschine, nahm seine Tasse und schlürfte den ungesüßten, schwarzen Kaffee. Dann lauschte er.
Und das, was er nicht hörte, elektrisierte ihn.

Er hörte das polyphone Säuseln der Kühler von diversen Computern. Er hörte sein eigenes Herz in den Ohren schlagen. Er hörte das Ticken der abkühlenden Kaffeemaschine. Aber er hörte kein galaktisches Rauschen. Normalerweise war der Kontrollraum erfüllt mit einer mannigfaltigen Geräuschkulisse: Piepen und Schnattern und Keckern und Stampfen aus fernen Galaxien, erzeugt aus unterschiedlichsten Strahlungen, Planetenrotationen, dem Puls und Sterben von Sternen… Schwingungen aller Art, die durch verschiedene Sampler und Synthesizer hörbar gemacht werden. Er hatte sich so sehr an diesen Klangteppich gewohnt, dass er trotz des Lärms einschlafen konnte.
Früher hatte er einem Astronom gleich, verbissen auf die Geräusche aus dem All gehört. Um vielleicht ein rhythmisches Klopfen zu hören, ähnlich wie in den Filmen Indepedence Day oder Contact. Bisher hatte sich ein regelmäßiges Klopfen entweder als unbekannter oder noch nicht kartographierter Spionagesatellit herausgestellt oder als Frequenzspiegelung von einer der Raumstationen.
Diese Geräusche waren weg. Vollkommen. Mike Green empfand die Stille als bedrückend und empörend gleichermaßen. Er ging mit Kaffee, Schaufel und Kehricht bewaffnet zurück in den Kontrollraum, stellte die frische Tasse Kaffee auf dem großen Glastisch in der Mitte des Raumes ab, machte die Scherben weg und deponierte Kehricht und Schaufel hinter dem kleinen Mülleimer links neben dem Haupteingang. Dann setzte er sich in den bequemen Rollensessel, ließ die Finger knacken und beschloss, dass er etwas tun musste.
Es gab Protokolle und Szenarien, die Handlungsweisen vorschrieben, wenn neue Geräusche dazu kamen, wenn sich Anzeigen veränderten oder einen gewissen Schwellwert überschritten. Und es gab – Gott behüte – ein Szenario für den Fall, dass ein Alarm losging. Was es allerdings nicht gab, war ein Szenario für den Fall, dass alles verstummte. An so einen Fall hatte keiner der schlauen, smarten Burschen gedacht. Mike Green verzog das Gesicht und dachte, während er die erste Fehlerroutine startete, man würde wohl die jetzt und in diesem Fall von ihm eingeleitete Prozedur als das „Green-Szenario“ bezeichnen. Er lächelte bei dem Gedanken, auf diese Weise in die Geschichte von SETI und VLA einzugehen. Das Lächeln verging ihm gründlich, als der erste Fehlerdurchlauf keine Ergebnisse brachte. Die erste Prozedur überprüfte die Hardware. Also die Verfügbarkeit der Server, der Datenbanken, die Position der Antennen, die Verbindung zu den Antennen, die Kabelwege, Router, Switches und Modems.
Da gab es keine Probleme. Er fand lediglich einen kleinen Fehler in einer Routingtabelle im Cisco Router, der als Firewall fungierte und das Intranet vom VLA mit dem Extranet verband.
Mike Green korrigierte den Fehler und startete die zweite Fehlerroutine. Hier wurde überprüft, ob alle Datensätze integer waren, ob der Sendefluss der Antennen den Normen entsprechend stattfand, weiters wurden Ausrichtungsabweichungen überprüft und nötigenfalls korrigiert.
Die zweite Fehlerroutine schloss nach sechzehn Minuten mit Fehler „0“ ab. Mike beschloss inzwischen, von Kaffee auf magenschonenden Tee umzusteigen. Denn er spürte eine sehr unangenehme Aufregung im Bauch.
Für ihn stand damit fest, dass die Antennen ausgerichtet waren und empfangsbereit, dass die Verbindung zu den Serveranlagen stand und dass die Server eingehende Daten verarbeiteten. Die Audiogeräte waren online und würden den üblichen Klangbrei liefern, wenn sie Daten bekommen würden, aus denen sie die Klänge zusammenstellen könnten. Wenn also alle verfügbaren Komponenten einwandfrei funktionierten und trotzdem kein Geblubber und Gezischel aus den Lautsprechern kam, dann drängte sich eine äußerst unbequeme Idee auf. Und das war selbstverständlich vollkommen absurd, nicht wahr?
In der dritten Fehlerroutine spielte Mike sämtliche Sternkarten und astronomischen Karten aus dem Cache der Server in ein Backupverzeichnis und betätigte die Routine, die ad hoc Messungen direkt in den Arbeitsspeicher luden. Diese Prozedur war normalerweise nur nach Absprache erlaubt, Mike fand die bisherigen Ergebnisse allerdings so beunruhigend, dass er diesen Schritt gerechtfertigt fand. Sollten sie ihn doch nachher standrechtlich erschießen! Er schaltete über Standleitungen drei in den USA verteilte Systeme dazu. Nämlich Montana, Iowa und Virginia. Die Codes waren sofort bewilligt worden und die Datensätze wurden abgeglichen.
Mike fiel auf, dass er, seit dem er aufgewacht war, kein einziges Mal zum Fenster hinaus gesehen hatte. Als ihm das bewusst wurde, wollte er einem Impuls nachgeben, aufstehen und mit der Kaffeetasse zum Fenster schlendern um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Mit den Antennen, mit der Wüste, mit dem Diamantenstaub im Himmel. Aber dann blieb er wie gelähmt sitzen. Zwei Systeme fingen an zu piepen. Dann ein drittes. Drei Monitore gaben Fatal Error aus. Die Fehler beruhten auf folgender technischen Eigenheit: Die Systeme versuchten, gerenderte Daten vom Cache oder aus dem Backup mit den neu abgerufenen Telemetriedaten abzugleichen. Änderungen wurden in neue Tabellen geschrieben und dann als neue Karten als binäre Daten im Datenbankserver abgelegt. Die Programme fanden sehr wohl die von Mike gesicherten Daten. Sie bekamen jedoch nichts über die Telemetrie rein. Für das System war das Jacke wie Hose. Ob sie nun nichts über die Antennen bekamen oder die gesicherten Datenbestände nicht fanden, war ihnen egal. Sie schlugen Alarm, weil sie nicht abgleichen konnten. Drei weitere Systeme fingen zu heulen an und ein Notfallprogramm aktivierte die Motoren der zwei auf Parkposition befindlichen Antennen und richtete sie auf zwei Standardpositionen aus. Mike sprang automatisch auf und bevor er seine Impulsivität verfluchen konnte, stand er zitternd und mit schweißnassen Händen am Fenster und sah zu, wie die Antennen über die Schienen rollten und gleichzeitig die gigantischen Schüsseln ausrichteten. Dass sah er allerdings nur an den Positionslichtern der Anlage. Denn draußen, jenseits des Fensters war es völlig dunkel.
Mike stellte die Kaffeetasse ab und benutzte seine Hände als Sichtschutz, als er sich ganz knapp an die Scheibe stellte und hinaussah.
Der Himmel war schwarz.
Da war kein Stern, kein von Sternen beleuchteter Planet, keine Galaxie, kein Schimmer, nichts. Nur allumfassende Dunkelheit.
Ich muss wen anrufen, Herrgott. Sofort, dachte Mike, bewegte sich aber keinen Millimeter.
In diesem Moment dachte er an die vielen Opfer der neuen Modedroge Jeremiah. Frauen und Männer, die sich in Kindersprache daherbrabbelnde Kretins verwandelten und von einem „Jeremiah Land“ faselten und einen gewissen Jeremiah baten, sie doch nach Hause zu bringen. Mike nahm keine Drogen und wünschte trotzdem, dass, was er jetzt erlebte, könnte das Ergebnis eines ausufernden Drogenexperimentes sein. Vielleicht hatte ihm Toshi aus Jux und Tollerei einen Drogencocktail in den Kaffee geschüttet. Vielleicht war irgendwo auf einem geheimen Stützpunkt ein bewusstseinveränderndes Gas ausgetreten. Vielleicht gab es aber auch nur eine merkwürdige Strahlung am Himmel, der sowohl optische wie auch radiologische Effekte erzielte. Könnte ja sein. Eine Strahlung, die sowohl das Auge wie auch die Technik austrickste?
Aber tief in sich wusste er, dass er sich irrte; einer trügerischen Hoffnung aufsaß.
Aber wenn er sich nun täuschte und wenn die Maschinen und seine Augen Recht hatten und er wirklich sah, was es zu sehen gab; nämlich nichts, was bedeutete es dann? Die sich anbahnende Erkenntnis war ebenso berauschend wie ungeheuerlich.
Mike ging zu den Konsolen, schaltete den Alarm stumm und beschloss dann, hinaus zu gehen um eine Zigarette zu rauchen.
Er holte seine Jeansjacke, in der die Zigaretten steckten, schlüpfte in seine Nike Grunge ohne die Schuhbänder zu binden und wollte gerade zur Tür hinausgehen, als das Mobilteil des Telefons läutete. Er sah sich suchend im Kontrollraum um und fand es auf einem der Yamaha Verstärker. Er klemmte es sich zwischen Schulter und Wange, zündete sich eine Zigarette an und sagte leise, mit gepresster Stimme: „Mike Green, VLA, New Mexico, bitte?
„Mike? Mike? Verdammt. Siehst du das? Kannst du es sehen?“
Das war Donald Freeman, einer der Studenten des MIT. Ein symphatischer Bursche, dem nachgesagt wurde, dass er seine Prüfungsergebnisse her seinem guten Aussehen zu verdanken hatte als seinem Intellekt, und seiner Bereitschaft sein gutes Aussehen auch burschenhaft charmant in den Betten beider Geschlechter zum Einsatz zu bringen. Mike mochte ihn, weil er witzig und klug war.
Jetzt klang er völlig panisch. Mike Green ging die Betontreppen hinunter und durch den Besucherempfangsraum am schlafenden Wachmann vorbei – Roger Simons pennte immer und er wurde nur deshalb nicht gefeuert, weil er so ein herzensguter Kerl war, den keiner an seine Dienstgeber verpfeifen würde. Nie und nimmer.
Die Glastüren öffneten sich automatisch und Mike trat ins Freie. Es war auffallend kühl. es war völlig windstill und die Nacht schien klar. Die Luft war staubtrocken. Mikes Hoffnung, der Sternenhimmel könnte durch eine hohe Wolkendecke verdeckt sein, schwand still und leise dahin. Und es war ungewöhnlich kühl.
„Mike? Sag was, um Himmels Willen!“
Mike blies den Rauch aus und antwortete: „Welchen Himmel meinst du, Donald?“
„Eben! Eben! Eben! Hast du die Daten neu geladen? Hast du die astronomischen Karten…“
„Hab ich alles gemacht. Ich hab drei Checks gemacht. Die Antennen bekommen kein Signal mehr, obwohl alle Antennen online sind. Das Notfallprogramm hat die 12 und die 13 auch auf Position gebracht. Nichts, nada, gar nichts. Donny? Was geht hier bloß ab? Es gibt nicht nur keine Sterne und Planeten mehr, sogar der Mond ist weg. Und es gibt da draußen nicht mehr die geringste Strahlung. Es ist so als ob jenseits der Erdatmosphäre einfach überhaupt nichts mehr wäre.“
„Was? Der Mond… der ist auch? Ach du Scheiße, Hurerei, verdammte!“ Mike grinste trotz des Gefühls, sich jeden Augenblick übergeben zu müssen. Und sich gleichzeitig in die Hose zu scheissen.
Mike sah auf seine Schuhspitzen. Zuerst erschien es ihm wie ein Trugbild. Er blinzelte, aber es war immer noch da. Er sah seinen scharf umrissenen Schatten. Obwohl er weit weg von jeder Lichtquelle war. Mittlerweile war es vier Uhr früh. Zeit dass die Sonne aufging.
„Donny? Wenn alles weg ist, alles außerhalb unserer Atmosphäre…?“
„Was?“
„Die Sonne…“
„Großer Gott!“
„Ja.“

Mike beendete das Gespräch ohne Gruß. Er war sicher, dass er Donald nie wieder sehen würde. Niemanden mehr. Er hob die Zigarette und wollte rauchen, aber seine Lippen zitterten. Seine Hände zitterten. Er selbst zitterte.

Der Himmel war leer. Wind kam auf. Sehr rasch, sehr heftig. Und er schien nicht aus einer Richtung zu kommen sondern von überallher in den Himmel, also hinauf zu entweichen. Sandhosen wirbelten hoch und tänzelten neckisch im Neonlicht des Parkplatzes etwa hundert Meter südlich von ihm. Die Sandhosen wurden nach oben gezogen, in die Länge gezerrt.
Das Mobilteil piepte wieder. Mike starrte das Handy verwirrt an – es war Professor Arrowhead dran - und warf es dann achtlos weg.
Mike keuchte. Der Luftdruck sank rapide, die Atemluft wurde dünn.
Unter seinen Füßen spürte er die Erde beben. Zuerst war es ein kitzelndes Vibrieren. Dann verstärkte es sich und drohte, ihn umzuwerfen. Die Fenster des Hauptgebäudes klirrten und auf dem Parkplatz gingen bei ein paar Autos die Alarmsirenen an. Das Heulen und Jaulen war entnervend. Von den Antennen des VLA stiegen hauchfeine Staubfahnen gedrillt in den Himmel, der keiner mehr war.
Mike beschloss, zurück in den Kontrollraum zu gehen und sich selbst ein Ende zu bereiten, bevor ihn der leere Himmel tötete. Der Gedanken, in der relativen Geborgenheit des Kontrollraums zu sterben, gab ihm Trost und der Gedanke, in dieser plötzlich abgeschmackten, beängstigenden kalten Welt von einer Masse Nichts aus dem leben gesaugt zu werden, ließ ihn fast hysterisch werden.
Als er bei den großen elektrischen Glastüren angekommen war, endete das Beben und Mike drehte sich noch einmal um. Von irgendwoher kam Licht. Es kam von überall. Es war kaltes, graues Licht, dass der Berglinie in der Ferne scharfe Konturen verlieh. Aber das Licht kam nicht von der Sonne. Es kam aus dem Himmel. Es war ein grauenerregendes, feindliches Licht. Es war ein Licht zum wahnsinnig werden.
Mike, der früher viel im Theater gewesen war und Opern liebte, dachte an Arbeitslicht. das ist das Licht, dass nach der Vorstellung aufgedreht wurde, wenn die Bühnenarbeiter die Dekoration abräumten.

Arbeitslicht, dachte er, als er sich im bequemen Computersessel niederließ. Er seufzte.
Arbeitslicht, dachte er, als er sich das Butterflymesser seitlich in den Hals stieß und die Halsschlagader akkurat durchtrennte. Er sank im Sessel zusammen und starrte die empört blinkenden Computerkonsolen an.
Mike Green starb ohne all zu schlimme Schmerzen auf diesem Sessel. Seine Kleidung war blutgetränkt und das Blut tropfte von seinen Hosenbeinen und vom Lederüberzug auf den Linoleumboden.
Er konnte sich nicht mehr bewegen als er – seltsam fern und ohne große Trauer – dachte: Sieben Milliarden Menschen im Arbeitslicht. Wer will das schon sehen?
Ungefähr drei Minuten später tropfte kein Blut mehr auf den Boden. Nicht, weil kein Blut mehr da war, dass hinuntertropfen hätte können. Sondern weil es hinauftropfte. Zuerst langsam. Dann schneller.
Und als sich auf dem Plafond des Kontrollraums ein dicker Blutfleck bildete, stiegen die ersten Papiere und Kugelschreiber hoch, drehten sich langsam im Kreis und klebten an der Decke.
Weitere zehn Minuten später verloren die Autos auf dem Parkplatz die Bodenhaftung und stiegen empor in den leeren grauen Himmel. Die Antennen des VLA ächzten titanisch und die Gestänge verbogen sich mit metallischem Kreischen.
Und so fanden die Dinge ihr Ende. Unrühmlich und in keiner Schlacht. Keine von Engelsscharen geführte Apokalypse.
Das Arbeitslicht war aufgedreht worden und die physikalischen Grundgesetze waren beendet worden wie ein Theatereffekt.

In other words hold my hand, in other words darling kiss me

Wir spüren ebenfalls diesen gewaltigen Sog. Wir spüren ihn bis ins Mark. Es ist wirklich unangenehm und beängstigend.
Viel lauter als zuvor hören wir das Geräusch des Filmprojektors. Frank Sinatra möchte noch immer zum Mond gebracht werden. Wir fragen uns hier sehr ernsthaft: Zu welchem Mond?
Die Tonspur quietscht. Frank Sinatras Stimme verkommt zu einem hysterischen Mäusegefiepe, bevor sich die Spur gerade richtig bei der letzten Strophe des Songs normalisiert:

In other words please be true, in other words I love you

Das Letzte was wir sehen, ehe es uns selbst hinaus und hinauf in den grauen, kalten Himmel zieht, ist Mike Greens Leichnam, der an der Decke des Kontrollraums in seinem eigenen Blut schwebt und sich langsam um die eigene Achse dreht.

Jetzt läuft das lose Ende des Films durch die Führung und klatscht an das Projektorgehäuse.
Und dann ist da nur noch ein umfassendes, kaltes, weißes Licht.

[ Editiert von nathschlaeger am 12.08.05 10:01 ]

Erich S Offline



Beiträge: 50

11.08.2005 21:19
#2 RE: Der leere Himmel Antworten

Davon ausgehend, dass der Inhalt - sowohl technisch als auch literarisch nicht dein Ernst sein kann:

Eine geniale Persiflage, oder etwa nicht?

Gruß
Erich

nathschlaeger Offline



Beiträge: 164

12.08.2005 11:17
#3 RE: Der leere Himmel Antworten

Gedacht war es als Hommage, Wenn es bei Dir als Persiflage angekommen ist, kann mir das auch nur recht sein.

lg/Peter

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