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Dieses Thema hat 4 Antworten
und wurde 442 mal aufgerufen
 Texte aller Art, Gedichte, Lyrik, Kurzgeschichten, Altbeiträge
nathschlaeger ( gelöscht )
Beiträge:

15.09.2005 11:09
RE: Das Dorf im Wald Antworten

Erst jetzt, als er sein Ziel schon fast in Griffweite hatte, fragte sich Frank Staumann, ob es eine gute Entscheidung war, dem Ruf zu folgen. Er fuhr mit seinem klapprigen 79. Ford Taunus über die schnurgerade und mit nassem Laub gesprenkelte Strasse durch den tiefen Wald. Zuerst hatte er Radio gehört, dann hatte er eine CD von U2 in den Player gegeben und gerade eben wollte er Nachrichten im Radio hören, als er feststellte, dass er keinen einzigen Sender rein bekam. Frank war froh, aus Berlin wegzukommen und er war froh, diese Stelle in der kleinen Polizeiwache als Schreibkraft zu bekommen. Merkwürdig allerdings war, dass Frank jedes Mal, wenn er sich seine Vergangenheit vor Augen führen wollte, um sie mit den Aussichten für seine Zukunft zu vergleichen, nichts zu fassen bekam außer einem Gefühl von vagem Unwohlsein. Der Gedanke, dass sein leben laut seinen Erinnerungen erst mit der Abfahrt aus der Stadt begonnen hatte, zauberte zwar ei Lächeln auf seine Lippen, machte ihn aber auch nervös. Dadurch erschien ihm sein Lächeln wie das Pfeifen eines kleinen Jungen, der sich in einem dunklen Wald verirrt hatte.
Die Jahre in Berlin erschienen ihm jetzt wie ein kaltes und distanziertes Gemälde, ebenso unangenehm wie fremdartig. Er konnte sich nicht einmal genau daran erinnern, wer ihn angerufen und ihm diesen Vorschlag gemacht hatte. Der Bürgermeister? Der Polizeichef selbst? Die Stimme – an die glaubte er sich zu erinnern – war angenehm gewesen, sogar fast lockend und sie schien die Konsistenz von Reife zu haben, wie ein voll erblühte Rose, kurz bevor sie zu welken beginnt.
Frank hoffte, dass ihm die Abgeschiedenheit des Dorfes gut tun würde. Er glaubte sich zu erinnern, dass die Stimme gesagt hatte: „Hier wird es nicht viel zu tun geben, hören sie? Das letzte Gewaltverbrechen liegt zwanzig Jahre zurück. Viele Jugendliche hier, aber sie stellen nichts an. Treiben sich auf den Strassen rum oder ziehen wie diese Grufties über die Felder… aber es gibt hier nichts zu tun außer da zu sein, verstehen sie?“
Frank verstand nicht genau, aber der Hinweis auf die herumziehenden Jugendlichen verschaffte ihm ein Gefühl von Melancholie und Trauer. Die Aussicht auf ein beschauliches Leben weitab vom Trubel einer vom Leben durchwirkten Stadt erschien ihm tröstlich und erstrebenswert; mehr als alles andere. Außerdem war da dieses Gefühl, heimgerufen zu werden.
Andererseits: Was sollten Jugendliche denn hier sonst tun? Das Dorf lag tief im Wald und war über eine Schnellstrasse und eine Ortsstraße zu erreichen. Die nächste größere Stadt war vierzehn Kilometer weit weg im Norden. Etwas näher waren drei holzverarbeitende Betriebe, die hier schon vor hundert Jahren angesiedelt worden waren. Tatsächlich gehörte Cleevesheim zu einem dieser Werke – die anderen Ortschaften waren in den späten siebziger Jahren verlassen worden und dienten nun als Geisterstädte unausgelasteten Jugendlichen und Hobbygeisterjägern als Freizeitparadies. Cleevesheim war geblieben und hatte eine Kirche, zwei Wirtshäuser, eine Schule, drei geregelte Kreuzungen und wie zufällig verteilte Wohnhäuser, die sich in die bewaldeten Hügel duckten. Frank hatte ein schwarz-weiß Foto gesehen, dass wohl auch im Herbst angefertigt worden war, denn man sah fast kahle Bäume und Wege voller Laub. Er hatte das Foto etwas beunruhigend gefunden weil er meinte, hinter einem der Fenster eines Hauses den weißen Fleck eines Gesichtes gesehen zu haben. Und in dem weißen, verschwommenen Fleck ein klarer, schwarzer Umriss wie von einem zum Schrei geöffneten Mund. Er hatte das Bild sogar mit der Lupe untersucht, aber der verschwommene Fleck wurde dadurch nicht klarer umrissen sondern im Gegenteil, mehrdeutiger. Möglicherweise ergab sich der unbehagliche Eindruck aus dem gesamten Bild und nicht aus diesem Detail.
Frank konnte sich nicht mehr erinnern, wo er das Foto gesehen hatte, unter welchen Umständen und wer es ihm gegeben hatte. Er dachte jetzt, während er mit einer Hand das Auto steuerte und mit der anderen Hand Zigarettenasche aus dem Fensterspalt stippte, dass seine ausgefransten Erinnerungen wohl denen glichen, die ein vom Alkohol gezeichneter Mann haben könnte. Alles in greifbarer Nähe und wattiert in dichtem, treibenden Nebel.
Eine Bewegung rechts vor ihm verlangte seine Aufmerksamkeit. Er blinzelte und sah drei oder vier Personen am rechten Straßenrand gehen. Er bremste den Wagen etwas ab, kuppelte und schaltete einen Gang runter. Als er näher kam sah er, dass es Kinder und Jugendliche waren. Sie gingen in Fahrtrichtung, er sah nur ihre Rücken. Ein kleines Mädchen, das mollig in seinen rosafarbenen Anorak gewickelt war, warf einen Blick über die Schulter zurück, lächelte und winkte. Frank hob ebenfalls die Hand zum Gruß und kam sich vor, als ob er in Zeitlupe an den Jugendlichen vorbeifahren würde. Sie sahen zu ihm ins Auto: Zwei Jungs, so um die dreizehn oder vierzehn Jahre alt, ein Mädchen um die Siebzehn und das kleine Mädchen. Nette Kids, fand Frank. Er zog an ihnen vorbei und gab leicht Gas. Dann sah er in den Rückspiegel und seine Haut wurde kalt. Im Rückspiegel sah er die Strasse mit den Jugendlichen und sie schienen noch genauso so zu sein, wie gerade eben, als er an ihnen vorbeigefahren war. Aber er konnte ihre Gesichter nicht sehen, sie schienen irgendwie seitlich verrutscht zu sein oder gerade eben eine Metamorphose zu einer grässlich abweisenden Fratze durchzumachen. Irgendwie kräuselte sich da etwas, als wären ihre Gesichter nur dünner Kunststoff unter dem Insekten wuseln würden.
Franks erster Impuls war, auf die Bremse zu steigen, er folgte aber seinem zweiten Impuls und gab Gas. Eine Sinnestäuschung, dachte er. Ich bin überlastet, ich bin müde. Da war nichts. Mein Verstand hat mir nur einen üblen Streich gespielt, oder?
Er schnippte die halb gerauchte Zigarette aus dem Fenster und drückte den Knopf, der das Fenster ganz schloss. Die Luft draußen war feucht und kalt und jetzt zog leichter Nebel aus dem Wald über die Strasse. Eigentlich mochte Frank diese Stimmung, besonders auf Fotos, auf Gemälden und in Filmen. Hier und jetzt allerdings hatte die schauerliche Romantik sich gewandelt und wirkte ebenso zudringlich wie distanziert und abweisend.
Nach etwa einem Kilometer sah er rechter Hand eine große Waldlichtung auf der ein uralter Steinturm stand. Das Gebäude war, schätzte Frank, etwa dreißig Meter hoch und auf der Vorderseite gab es blinde, längliche Fensterschlitze. Die Lichtung selbst wirkte heruntergekommen und war mit Unkraut und verkrüppelten, kahlen Büschen bewachsen. Frank dachte: ‚Das ist ja wirklich Abgeschiedenheit pur, das ist ja fast wie in der Twilightzone, wie in der Serie.’ Das turmartige Gebäude mit den seitlichen Dickungen war aus Ziegelsteinen gebaut, die unverputzt in den Jahrhunderten, die es schon da stehen mochte, die rußige Schwärze der Landschaft angenommen hatte. Frank fand, dass dies kein guter Ort war, so wie der ganze Wald wohl kein guter Ort war.
‚Aber der Wald ist einfach nur ein Wald’, sagte er sich. Und alles was daran unheimlich ist, wurde uns in Gruselfilmen eingetrichtet. Unsinn, na also.
Wenn es nur so einfach wäre.
War es aber nicht.
Etwa fünf Minuten später kam Frank zu einer ungeregelten Kreuzung. Eine schmale, frisch geteerte Landstrasse querte die Strasse auf der er fuhr und im rechten Winkel der Kreuzung stand das Ortsschild: Cleevesheim. Das Schild aus Blech war alt und rostig und es sah so aus, als hätte jemand hier mit einem kleinkalibrigen Gewehr Schießübungen abgehalten.
Frank rief sich in Erinnerung, wie man ihm den Weg zum Dorfgasthof ‚Zur Silbergans’ erklärt hatte: „In den Ort hinein, an der Kirche, an der sie links vorbeikommen noch vorbei und dann auf der geregelten Kreuzung, die aber immer auf Blinken eingestellt ist, nach rechts ab und dann gleich die Erste wieder rechts und sie sind da. Großer Kiesparkplatz, altes, niedriges Gebäude, schaut wie eingesunken aus. Ist nicht zu verfehlen.“
Und das tat er auch nicht. Er fuhr an der Kirche vorbei, die für eine Dorfkirche viel zu groß war und mit ihren schmutzigen pittoresken, hohen Steintürmen abweisend, ja, sogar verurteilend aussah, bog rechts ab in eine kleine Wohnsiedlung und fühlte sich deplaziert und unglücklich; wie aus der Bahn geworfen. Die flachen Häuser schienen alle in den weichen Boden eingesunken zu sein, sie wirkten schief und baufällig – kurz bevor er rechts abbog, sah er auf einer Holzveranda, über die der Wind Laub verteilte, einen etwa siebenjährigen Jungen und ein kleines Mädchen. Sie schauten ihm völlig ausdruckslos nach und für eine Sekunde glaubte Frank gesehen zu haben, wie sich unzählige Kinderhände im Inneren des Gebäudes auf die Glasfläche der Verandatür pressten. Er bildete sich ein, einen klagenden Schrei zu hören – hoffnungslos und verbittert. Die Kinderhände sanken in das Dunkel zurück und Frank stellten sich die Härchen auf den Unterarmen auf. Jetzt hatte er Angst, obwohl er keine wirkliche Bedrohung ausmachen konnte. Mit einem Gefühl von umfassenden Unbehagen rollte er auf den Kiesparkplatz vor einem länglichen, ebenfalls wie in den Boden eingesunkenen Bau.
Er stieg aus, sperrte den Wagen ab und ging zu der dunklen Holztür. Auf der rechten Seite hing eine schwarze Tafel mit dem Menü der Woche, unter dem Menü standen die Öffnungszeiten.
Frank trat in das dunstige Dunkel des Wirtshauses.
Seine Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an den Dämmer der Gaststätte gewohnt hatten. Linker Hand gab es einen langen, dunkel gebeizten Tresen. Es roch nach verschüttetem Bier und kalter Zigarrenasche. Weiter hinten erhob sich ein Schemen und winkte ihm. Frank kniff die Augen zusammen, öffnete sie wieder und erkannte in dem Schemen einen großen und dicken Mann, dessen joviale Art er sofort ansprechend fand.
„Frank, da sind sie ja. Gute Güte, ich wollte schon einen Rettungstrupp ausschicken, falls sie sich verfahren haben!“
Frank lächelte, reichte dem großen Mann die Hand und vergaß fast augenblicklich sein Unbehagen, dass er gerade eben noch empfunden hatte. Der große Mann schüttelte die Hand wie einen Schwengel, was Frank abermals zum grinsen brachte.
„Frank, mein Name ist Walter Curette. Ich bin sozusagen ihr Vorgänger und meine Aufgabe ist es, sie rasch und gründlich einzuweisen. Das wichtigste zuerst: Die Polizeiwache ist bis auf sie unbesetzt. Ermittlungstätigkeiten gibt es hier nicht wirklich – wie gesagt, das letzte Verbrechen ist zwanzig Jahre her… wie alt, sagten sie, sind sie?“
„Ich bin… zwanzig Jahre alt. So ein Zufall, nicht? Sagen sie, ihr Nachname. Curette, das klingt französisch, oder nicht?“
Sie setzten sich an einen länglichen Tisch im hintersten Winkel des Lokals. Walter Curette lächelte Frank vorwurfsvoll an und antwortete mit abweisender Mine: „Aber nein. Curette kommt aus dem Lateinischen. Ist ein unglücklicher Name. Als Curette bezeichnete man früher den Schaber, mit dem der Unterleib einer Frau nach der Abortion ausgeschabt wurde. Eine Methode, die gottlob fast nicht mehr zum Einsatz kommt.“
Frank nickte unangenehm berührt. Walter Curette stand nach einem kurzen Moment des Schweigens auf, ging hinter en Tresen und brachte zwei Maß Bier und einen Teller mit Knabberzeug.
Frank trank und knabberte an Erdnusslocken; sein Gastgeber sah, dass ihm eine Frage auf dem Herzen lag: „Sie sehen aus, wie jemand, der jetzt sofort eine Frage stellen muss, bevor er explodiert.“
Frank nickte und stellte den Krug an.
„Also, schießen sie los, mein Junge!“
„Sie erwähnten bisher zweimal, oder sogar dreimal, wenn ich mich nicht täusche, ein Verbrechen hier im Ort. Was war es? Was ist geschehen?“
„Oh!“ Walter Curette fuhr zurück und schaute Frank wie einen Jungen an, der soeben etwas absolut obszönes von sich gegeben hatte. Dann sagte er leise und geheimnisvoll: „Also bitte, wenn sie es wirklich hören wollen…“
Frank wollte. Er wollte noch eine Weile hier sitzen und sich die Geschichte von diesem Waldschratt anhören und dann zur Polizeiwache fahren um seinen Dienstort kennenzulernen. Er glaubte sich zu erinnern, dass man ihm ein Zimmer in einem Einfamilienhaus versprochen hatte. Dort wollte er anschließend hin um sich wohnlich einzurichten.
Walter nahm noch einen großen Schluck von seinem Bier, wischte sich über den hellblonden, wild sprießenden Bart und sagte: „Also gut. Vor zwanzig Jahren war dies hier ein blühender Ort. Und dieser Gasthof hier gehörte Rainer Braun. Er war geschieden und weil seine Frau schwere Alkoholikerin war, zog er Miriam groß, seine damals siebzehnjährige Tochter. Miriam war ein hochanständiges und hübsches Mädchen. Wenn sie nach der Schule nach Hause kam, dann machte sie Hausaufgaben und später half sie ihm als Schankkraft. An manchen Tagen wäre er ohne sie ganz schön aufgeschmissen gewesen. Miriam war zu einer wahren Schönheit herangewachsen und es war nur natürlich, dass sich die Jungs schön langsam für sie zu interessieren begannen. Am meisten Eindruck hinterließ wohl Martin Steiner bei ihr. Er war so alt wie sie, ein hübscher dunkelhaariger, schlanker Junge, charmant, witzig und belesen. Martin war der Sohn einer begüterten Familie, die etwas außerhalb von Cleevesheim ein kleines Gestüt betrieben. Rainer Braun war ein frommer Mann, um nicht zu sagen, ein Eiferer im Namen des Herrn. Als er erfuhr, dass Miriam sich mit diesem Jungen traf, tobte er fürchterlich, schrie über Höllenfeuer und Gottes Zorn und verbot ihr, sich weiterhin mit diesem schlechten Jungen zu treffen.
Und was glauben sie? Natürlich haben sich die zwei jungen Leute weiterhin getroffen. Jetzt, da Miriam so verliebt war, hatte sie zum ersten Mal wirklich Zorn auf ihren Vater – Martins Eltern waren sehr liebevoll zu ihr. Und es geschah, was geschehen musste. Ein anderer Junge, der ebenfalls Miriam für sich wollte, verbreitete das Geheimnis, dass ihm zufällig zu Ohren gekommen war, nämlich dass Miriam von Martin schwanger war. Das sprach sich blitzschnell herum und im Oktober 1985 lud Rainer Braun seine Tochter und ihren Freund zu einem, wie er sagte, Informationsgespräche ein. Er klang so versöhnlich, sagten Leute, die im Gasthof waren, als er seine Tochter mit der Einladung an Martin losschickte. Martin kam. Rainer Braun schloss an diesem Abend schon um 21:00 seine Gaststätte. In dieser Nacht verschleppte er die jungen Leute in den Keller, kettete sie dort an die Wand und quälte sie vier Tage lang. Er nahm bei seiner Tochter, die er zum Teil, so wie den Jungen lebendig gehäutet hatte, mit einem weißglühenden Metallrohr eine Abtreibung vor. Sie starb daran. Der arme Junge musste das alles mit ansehen. Zum Schluss kastrierte er Martin Steiner mit einer glühenden Zange und warf ihn nackt und entstellt in einen ausgetrockneten Brunnen unter dem Keller. Schrecklich, was?
Man fand ihn an dem Tag, an dem man Rainer Bauer verhaftete. Fünf Tage nachdem er die jungen Leute in den Keller verschleppt hatte, also einen Tag nach dem Mord an seiner Tochter, wurde Rainer Braun verhaftet. Martin Steiner wurde ins Landeskrankenhaus gebracht und lag im Koma.
Als sich herumsprach, welch ein grässliches Verbrechen hier verübt worden war, zogen fast alle Leute von hier weg. Und Cleevesheim war kurz davor, ebenso eine Geisterstadt zu werden wie die umliegenden Ortschaften. Doch dann zogen Leute in die leeren Häuser ein. Es sind seltsame Leute. Sie sind friedlich, aber auch ein wenig unheimlich…“
Frank hatte sein Bier ausgetrunken und stellte den Krug auf den Tisch, genau auf den Wasserring, den das Glas auf der Tischfläche hinterlassen hatte.
„Großer Gott! Um Himmels Willen, dass ist doch furchtbar! Die armen Kinder!“
Walter nickte traurig. „Das ist es wohl. Wussten sie, dass es eine Legende über die Seelen der abgetriebenen Kinder gibt?“
„Nein. Kenn ich nicht! Muss ich das kennen?“
Walter nickte: „Es könnte ihnen helfen, hier einiges zu verstehen.“
„Sie wachsen, wissen sie das, nein? Die Seelen von Kindern, die noch vor der Geburt abgetrieben wurden, wachsen heran und werden zu Kindern, zu Teenagern, zu jungen Männern und Frauen – sie wachsen solange heran, bis der letzte Mensch stirbt, der sich an sie erinnern kann.“
Das Gespräch nahm eine völlig abgedrehte Wende und Frank fühlte sich zutiefst unbehaglich. Er rutschte unruhig auf der harten Holzbank herum, griff nach dem leeren Bierkrug und drehte ihn auf dem Tisch.
„Sie sind Geister. Sie sind die wahren Geister. Und sie sind trübe Spiegelungen einer Möglichkeit – sie sind die nebulöse Antwort auf die: ‚Was wäre aus dem Kind geworden, wenn man es nicht abgetrieben hätte’ Frage. Verstehen sie?“
Frank fuhr von der Bank hoch und fuhr sich mit den Händen an den Kopf. Er wimmerte. Dann schrie er den Mann an: „Woher wissen sie das alles? Wer erzählt ihnen solche schauderhaften Sachen? Und, um Gottes Willen, warum erzählen sie mir das alles? Wollen sie mich vertreiben? Bin ich nicht geeignet für ihren komischen, was weiß ich für einen Job?“
„Es gab noch ein Verbrechen, nein, eigentlich einen Unfall mit Fahrerflucht. Ein junger Mann überfuhr an einem Herbstnachmittag vier Kinder. Zwei vierzehnjährige Knaben, ein siebzehnjähriges Mädchen und ein siebenjähriges Mädchen.“
Frank wich mit verzweifelter Mine zurück und stolperte rückwärts auf den Ausgang zu.
Dann flüsterte er, denn der umfassende Schrecken der Idee, die ihm gerade durch den Kopf schoss, raubte ihm die Stimme: „Hatten sie schon einen Namen für das Kind? Weiß man, ob es ein Mädchen oder ein Junge geworden wäre?“
Walter Curette stand ebenfalls auf und hob beschwichtigend die Hände. Dann sagte er leise und wie es Frank erschien, mit einem leisen Bedauern: „Es wäre ein Junge geworden. Das stellte man später bei der Obduktion fest. Und es war allgemein bekannt, dass sie das Kind nach Martins Großvater nennen wollten.“
„Wie?“
„Frank.“
„Oh mein Gott nein! Ich muss, nein ich will hier sofort, ich muss hier weg!“
„Ich fürchte, das geht nicht, Frank. Die Geister abgetriebener Kinder können eigentlich nur dort sein, wo sie geboren wurden, indem man sie tötete. Uns ist nicht ganz klar, wie du es schaffen konntest, fast zwanzig Jahre lang völlig zu verschwinden. Die Leute vom Orden würde das sehr interessieren.“
Frank umklammerte sich und wimmerte: „Nein, nein, nein… ich bin kein Geist, ich bin kein ermordeter Embryo. Wieso bin ich hier? Wieso heute, warum jetzt?“
Walter kam zu ihm, packte ihn an den Armen wie um ihn auf Distanz zu halten und antwortete: „Es ist dein Vater. Er ist damals nicht gestorben, aber er verlor den Verstand und fiel ins Koma. Er ist gestern aus dem Koma erwacht. Er ruft nach dir. Schon seitdem er wach ist. Er scheint zu wissen, dass es dich gibt, dass es dich so gibt, wie du jetzt bist.“
„Wie gibt es mich denn? Was bin ich?!“
„Frank, du bist existent. Aber nicht am Leben!“

Frank empfand die Hände von Walter Curette als einengend und unangenehm und wand sich aus seinem Griff. Er schnaufte, wischte sich die Wangen trocken und hob sein Gesicht um in die Augen des großen Kerls zu sehen: „Wieso kann ich dich spüren, wenn ich ein Geist bin?“
Walter schmunzelte: „Weil ich ebenso durchlässig bin wie du, Junge.“
Frank stolperte rückwärts auf die Tür zu, die rechts vom Tresen in den Keller führte. Walter rief ihm halblaut nach: „Geh zu deinem Vater. Zeig dich ihm. Er soll sehen, dass all das Leid nicht vergebens war denn er wird dich wie einen Mensch sehen und nicht wie einen Geist.“
Frank schüttelte entsetzt den Kopf, und machte ein paar schnelle Schritte auf den Ausgang zu. Als er sah, dass Walter einen Schritt auf ihn zu machte, rannte er so schnell er konnte auf den Ausgang zu, riss die Tür auf und stürzte ins Freie. Die Helligkeit, die durch die dichte Wolkendecke drang, blendete ihn und er tappte sich am Kühler entlang zur Fahrertür, sperrte auf und schwang sich hinter das Lenkrad. Seine Gedanken überschlugen sich wie panische Hunde in einem Raum, in dem Feuer ausgebrochen ist. Aber am deutlichsten war der Gedanken: „Ich lebe. Ich bin. Ich denke, fühle, ich nehme mich wahr. Ich bin am Leben!“
Er ließ den Motor an und schaute durch die Windschutzscheibe auf die Eingangstür der Gaststätte. Eine nebelartige Präsenz quoll aus der Finsternis hinaus in den späten Tag. Frank schrie auf, knüppelte den Rückwärtsgang rein und preschte kiesverspritzend nach hinten aus dem Parkplatz.
„Oh nein oh nein. Das ist ein übler Scherz den man sich mit mir erlaubt. Ich bin nicht tot. Ich bin nicht tot.“
Eine andere Stimme in seinem Kopf meldete sich zu Wort. Sie klang so wie ein Mund voller Erde: „Stimmt, du bist nicht tot, weil du nie gelebt hast. Was du bist, ist eine vage Möglichkeit, die Gestalt angenommen hat.“
„Oh nein!“
Frank raste mit hundertzwanzig Stundenkilometer an der Kirche vorbei und über die Kreuzung auf die schnurgerade Waldstrasse. Durch den Motorlärm und das Rauschen des Fahrtwindes hörte er ein nervöses Klappern, als würden gigantische Holzrollos herabgelassen werden.
Er kam an dem unheimlichen Steinturm vorbei, verdrehte den Hals um ihn zu sehen und kam von der Spur ab. Als er wieder nach vor blickte, sah er nur wallenden, blendenden Nebel. Und aus dem Nebel schälten sich vier Gestalten. Er kam viel zu schnell auf sie zu um anders zu reagieren: Er ließ das Lenkrad los, schlug die Hände vors Gesicht und raste in die Kindergruppe. Er hörte, wie er ein Kind niederpflügte und er wusste, dass der heisere Aufschrei von einem der Jungen kam, der zur Seite in den Wald geschleudert wurde. Das siebzehnjährige Mädchen wurde unter den Reifen zermalmt, der zweite Junge wurde ebenfalls in den Wald geschleudert und brach sich an einem Baum das Genick. Er konnte hören, wie der Leib des Jungen auf dem Baumstamm aufschlug.

Als er die Hände vom Gesicht nahm, war da nur Dunkelheit und Stille. Nein, jenseits seines panisch schlagenden Herzens war da ein rasselnder, feuchter Atem. Seine Augen gewöhnten sich an das Dunkel und er konnte Schatten ausmachen. Und einer der Schatten bewegte sich auf ihn zu. Der Schatten öffnete den Mund und flüsterte: „Hallo mein Sohn.“
Frank begann hysterisch zu weinen. Durch seinen Tränenschleier sah er eine kümmerliche, gebückte Gestalt auf sich zu humpeln. Nackt und ausgemergelt. Im fahlen Licht, das durch ein blindes Fenster in den Keller fiel, sah er die grässlichen Brandwunden am Unterleib des verkrüppelten Mannes.
Der gebückte Mann mit den langen, strähnigen Haaren beugte sich vor und sagte leise: „Du hast die Kinder umgebracht. Sie kamen jedes Jahr zum Todestag von Miriam, um Blumen auf ihr Grab zu legen. Das Grab bei der alten Abtei. Sie wussten, dass Miriam schwanger war, als sie starb. Es gab fünf lebende Menschen, die sich heute noch an dich erinnern konnten. Jetzt bin nur noch ich da.“
„Und wenn du eines Tages nicht mehr da bist?“
Dann, dann gibt es keine Erinnerungen mehr an dich, die dich hier halten. Denn weißt du, du warst immer hier.“ Er tippte sich an die Stirn: „Immer.“
Frank umklammerte sich und stand auf. Er ging auf die erbärmliche Gestalt zu, die unverständlicherweise noch am Leben war. „Ich werde dir beweisen, dass ich kein Geist bin, alter Mann. Ich werde es dir beweisen.“
Frank umfasste den Hals von Martin Steiner, der vor drei Wochen aus der Klinik entlassen worden war und sofort hierher geeilt war um seinen Sohn zu befreien, in dem er sich opferte, und drückte zu. Ihm schien, dass der Alte lächelte, als er starb.
Frank stieß einen hohen, bitteren Schrei aus, als der alte Mann zusammensackte und mit einem furchtbar endgültigen Geräusch auf dem Boden aufschlug.

Später öffnete Frank die Augen und sah weißen Nebel. Ihm war kalt. Lebte er noch?
Hatte er je gelebt?
Er spürte, dass er auf dem Boden kniete. Es war ein Holzboden. Er war nackt. Hinter sich hörte er das Flüstern von Kindern. Sie flüsterten in einer ihm völlig unbekannten Sprache.
Der Nebel lichtete sich und er sah, dass er neben anderen Kindern in einem dunklen Raum kniete. Vor sich sah er ein Verandafenster, durch das Licht hereinfiel. Er sah an sich herab. Sein zwanzigjähriger Leib war dem Körper eines unförmigen, riesigen Babys gewichen. Er tappte sich vor, stieß andere Kinder auf die Seite und presste, so wie sie, seine pummeligen Hände an die Scheibe.
Er hörte einen Automotor. Er kannte den Klang des Motors. Draußen auf der Veranda standen ein Mädchen und ein Junge, er vielleicht sieben oder acht Jahre alt, sie in etwa fünf. Als er den Mund öffnete um sie zu fragen, wer sie seien, kam nur unverständliches Gebrabbel über seine Lippen. Doch der Junge schien ihn zu verstehen. Der Junge flüsterte ohne sich umzudrehen: „Wir sind alle deine Möglichkeiten. Wir sind, damit du niemals fliehen kannst. Du bist das Ergebnis, wenn ein Niegeborener mordet.“
Frank stieß einen verbitterten, klagenden Schrei aus. Die beiden Kinder auf der Veranda starrten unverwandt über den Garten hinaus auf die Strasse.
Er spürte, wie er mit den anderen formlosen Kinderkörpern vom Fenster weg ins Dunkel zurückgezogen wurde. Es tat weh, es tat so schrecklich weh.

Draußen rollte ein alter Ford Taunus vorbei. Drinnen saß ein junger Mann, der einen beunruhigten Blick zur Seite warf. Und dann bei der Kreuzung rechts abbog.
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Miss Rainstar Offline




Beiträge: 1.967

15.09.2005 13:44
#2 RE: Das Dorf im Wald Antworten

nicht schlecht.

aber ich muss es nochmal lesen um es ganz zu verstehen. also frank hat nie gelebt, er war praktisch nur die möäglichkeit eines lebens...

aber, wer sollte dann diese möglickeit bekommen oder sich nehmen? oder hab ich was übersehen?

nathschlaeger Offline



Beiträge: 164

19.09.2005 07:32
#3 RE: Das Dorf im Wald Antworten

Hallo Rainstar,

manchmal mag ich Geschichten erzählen, die nicht unbedingt zuende erklärt werden. das läuft dem üblichen Prosaistenleitsatz zuwider, ist mir schon klar.
Curette sagt ja zu Frank mehr oder weniger, dass die wahren Geister, die auf unserer Welt wandeln, die Geister der nie geborenen Kinder sind, die noch im Mutterleib durch Abortion ermordet wurden. Und diese Geister leben so lange als Geister, bis der letzte Mensch stirbt, der sich an die Abtreibung erinnern kann,
Das Ende dröselt allerdings alles auf, weil Frank als Geist seinen Vater ermordet hat, um endlich frei zu sein. Und einen Geist der mordet, erwartet die Ewigkeit - eine Andeutung, wie diese aussehen kann, hab ich mit dem Schlussatz gemacht.

lg/Peter

Miss Rainstar Offline




Beiträge: 1.967

19.09.2005 20:16
#4 RE: Das Dorf im Wald Antworten

poah...muss ich NOCHMAL lesen. ich find die geschichte trotz deiner erklärung immer noch verwirrend. aber das kannst du positiv sehen, es regt nämlich zum nachdenken an! im übrigen mag ich verwirrende geschichten.

Schreiberlilly Offline



Beiträge: 875

21.09.2005 01:17
#5 RE: Das Dorf im Wald Antworten

Ich fand sie klasse, sehr spannend erzählt. Musste zwar beim Lesen auch ein paar Mal innehalten und überlegen, aber ich denke, ich hab es nun kapiert.
Wie gesagt, sehr schön. Wie bist du auf die Idee zu der Geschichte gekommen?

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