Ich erwachte nach langen Träumen. Vielleicht waren es auch keine Träume. Fast stereotyp möchte ich mich Spekulationen hingeben. Ein Fisch oder ein Wurm von besonderer Kleinheit schwamm sichtbar durch eine große Ader in meinem Arm. Ich konnte ihn spüren, seine Bewegung in meiner Ader. An einer besonders dünnen Stelle schwamm er ganz dicht an die Membran der Ader. So konnte ich seine Augen sehen. Schwarze, lidlose Fischaugen, in denen es funkelte. Nachts, bevor ich einschlief, konnte ich seine leichten Schwimmbewegungen in meinem Körper hören. Manchmal tastete ich meinen Körper ab. Auf der Suche nach diesem Parasiten. Daß ich das andere aber nicht geträumt habe, verraten mir die Narben an meiner linken Seite, meinen Armen und meinem rechten Bein. An meinen Gliedmaßen waren die Schläuche. Ich war dort. Kein Traum. Ich habe den anderen in mir gespürt. Wie kaltes Wasser schoß sein Blut durch meine Adern. Ich konnte es fühlen, als es durch die Kanüle in meine Adern trat und von dort in meinen Körper kroch. Kalter Brand, ein schwereloses Beben in den Atemwegen, als die Betäubung in mich drang, sie kroch von meinem linken Arm wie ein Spinnenweb hinauf und schoß durch mich, bis es mein Bewußtsein auflöste. Die Spritze traf mich unvorbereitet, hatte ich doch mit der Maske gerechnet. Früher, als Kind, setzte man mir vor einer Operation eine Maske auf und ließ Äther einatmen, das Gefühl auflösender Schleimhäute, erweiterter Atemwege, das Würgen und schließlich nichts.
Als ich wieder erwachte und den ersten Schwindel überwunden glaubte, dauerte es eine Zeit, bis ich wieder mir selbst deutlich machen konnte, was mit mir geschehen war. Ich lag auf diesem Bett, neben mir lag er, mit mir verbunden durch Schläuche. Ich spürte sein Blut in mir kriechen. Man verlangte von mir, die Notwendigkeit des Eingriffs zu verstehen. Eine Rettung, nicht nur für ihn, gesellschaftlich betrachtet von großer Bedeutung. Auch stellte jemand der Anwesenden mir, außer einer großzügigen Aufwandsentschädigung, eine Rente in Aussicht, sowie eine Zuwendung an meine Familie, sollte etwas nicht vorgesehenes eintreten. Ich sah mir die vorgelegten Zahlen an, folgte den Berechnungen und wurde von einem beruhigendem Gefühl überfallen. Für alles war, jedenfalls in finanzieller Hinsicht, gesorgt.
Gern würde ich sagen, daß die Nächte schlimm oder unerträglich seien, aber ich kann es nicht. Die Nächte sind Ohnmacht. Man sedierte mich zu einer bestimmten Zeit des abends. Wohl kaum aus Rücksicht auf mich, damit ich nicht wach liege und meinen Kopf in bösen Rausch versetze. Ich möchte nachts denken, auch schlechte, drückende Gedanken, aber meine Unruhe würden den anderen stören. Um ihn nicht der Gefahr eines Ungleichgewichts irgendwelcher Stoffe aus meinem Körper auszuliefern, kontrollierte man meinen Körper. Die Tage waren durchzogen von Untersuchungen, Ruhephasen, Ernährung und Reinigung. Es ist unangenehm, die Toilette nicht benutzen zu können und sich ganz dem pflegenden Anwesenden hinzugeben. Fast wehrlos mußte ich die Reinigungen über mich ergehen lassen. Dabei aber verhielt man sich nicht grob oder mechanisch, eher behutsam. Das verstand ich als dem Schutz des anderen geschuldet, nicht meinem Wohlergehen, an dem man nur soweit Interesse zeigte, betraf es den Gesundheitszustand des an mich Gekoppelten. So verging die Zeit, die ich nicht mehr zählte. Eine Routine kehrte ein. Das kontrollierte Aufwachen, die Waschungen, die Untersuchungen, die Nahrung, das kontrollierte Einschlafen. Dazwischen überflutete man mich mit Reizen, die mich entspannen sollten. Von der Medizin verstehe ich nicht viel, ich konnte nur vermuten, daß man Streßhormone vermeiden wollte, die sich den Weg hinüber hätten bahnen können.
Durch die Freundlichkeit und das Geld, ließ ich mich verführen. Es war unnötig. Das Geld brauchten wir nicht. Es ging alles gut, schuldenfrei und einen guten Lebensstil konnten wir pflegen. Ich begreife nicht, warum ich es tat. In den Minuten der Stille, die trotz aller Vorkehrungen und Ablenkungen von mir erzwungen werden konnten, dachte ich über das Zu spät nach. Sinnlos, alle Gelegenheiten aufzuzählen, bei denen ich zu spät kam, versagt hatte durch Zögern. Der Zweite zu sein war mir bestimmt. Kein Held zu sein. Vielleicht war es das und nicht das Geld, was mich zur Unterschrift trieb. Nicht der Zweite zu sein, der Erste, der diesen Mann rettet. Jeder zeichnete sich als den ersten und einzigen, versuchte alle zu übertrumpfen. Ich zog mit, machte dieses Wettspiel auch zu einem Teil meines Lebens. Schließlich erkannte ich, daß es Unsinn war und stieg aus, ordnete meine Verhältnisse, beschrieb den Kreis der Familie und sank herab in den Alltag, blieb Beobachter. Und doch wollte ich ein Held sein. Gegeben wurde mir die Gelegenheit dazu durch diesen Eingriff. Nur kurze Zeit, ein Leben retten, ausgesorgt - der Sorgen enthoben. Und ein Held. Was für eine Vorstellung. Ich bildete mir ein, daß schon nach der sachten Anfrage die Leute auf der Straße mich ansahen und meinen Namen nannten, mit dem Hauch der Bewunderung. Einbildung. Schnell unterschrieb ich die Erklärung, ohne sie genau durchzulesen und ohne mich näher mit Familie und Freunden zu besprechen.
Der andere war sehr dick. Ich konnte ihn nur als Schatten in den Augenwinkeln ausmachen. An einen Fleischberg gekoppelt, den ich in stillen Momenten haßte. Und auch wieder nicht. War es denn eine Krankheit, die diese Maßnahme erzwang? Hatte ein Unfall alles verursacht? Oder war er auch nur Teil und nicht Nutznießer eines Experiments? Wer war er? Mich beschlich die Angst, daß er kein Mensch war, sondern ein Tier oder etwas anderes. Der schwere Leib, mit der Anstrengung eines Kopfaufrichtens, das sehr langsam war, weil mein Wille den Muskeln seinen Befehl zwar aufzwang, sie sich weigerten, gesperrt von einer Dosis unbekannter Substanzen. Ich zwang auch meine Augen an den Rand ihrer Höhlen, spürte dabei, wie sich hinter ihnen die Nerven wie Bänder spannten. Ich wollte den anderen sehen und fürchtete mich davor, es möge etwas, das die Augen im Kopf hielt, zerreißen. Sein Atmen drang zu mir. Regelmäßig, schwer schleppend, gelegentlich ein rasselndes Geräusch aus der beschleimten Lunge, manchmal sogar so lange und deutlich, daß sich in mir ein Hustenreiz aufbaute. Ich wollte den Schleim des anderen aus meinen Lungen husten, damit dieses Geräusch aufhörte. Durch eigene tiefe Lungenzüge hoffte ich, sein Sekret durch die Schläuche in meinen Körper zeihen zu können, damit es endlich weggehustet werden konnte, raus aus unserem Körper und weg von meinem Gehör. Mit der tumben Regelmäßigkeit einer kalt-schlauen Maschine atmete der andere und rhythmitisierte mein eigenes Atmen. Dagegen mußte ich mich wehren. Schon genug damit, daß sein Blut und wer weiß, was noch, sich in meinem Körper befand, aber nach seinem Atem wollte ich nicht atmen.
Ob man es versäumt hatte, mich darüber zu informieren, wer der andere war oder ob es Absicht war, vermag ich nicht einzuschätzen. Es kam mir vor wie der Hauptgewinn eines Preisausschreibens. Man informierte mich, lockte mich und so lag ich dort. In diesem Raum. Im Halbdunkel. Angekoppelt.
Aus dem traumlosen Schlaf riß mich eine grelle Vorstellung, die alle Schranken in meinem Geist überwand, die von Medikamenten empor gezogen wurden. Ich bin nicht mit ihm allein. Andere. Nicht die Pfleger oder die Ärzte, andere. Ich sah das Bild einer Blume, dann einer Nervenzelle, die mit anderen Nervenzellen verbunden ist, dann sah ich eine Stadt, um die sich peripherische Quartiere legten, verbunden durch schlauchartige Verkehrswege, eine Mutter, inmitten einer Schar Kinder, sie greift sie mit sechs Armen in wildem Tanz um sich fliegen lassend. Was, wenn ich nicht der einzige bin? Um diesen Körper herum andere. Diese anderen Körper und meiner erfüllen die Funktion der Organe? Wie viele Organe kann man durch einen anderen Menschen ersetzen? In der Mitte eines großen Raumes liegt er, wir umliegen ihn wie Planten die fleischige Sonne, sich gegenseitig in Gravitation haltend, verbunden durch Schläuche, kontrolliert durch Instrumente und, von außen her, die Ärzte mit ihren allsehenden Augen über Masken. Der Tanz liegender Körper um das zentrale Unbekannte. Vielleicht waren die anderen meine Freunde oder meine Familie? Insgesamt waren wir Geschwister, gekoppelt an den Mutterberg mit Nabelschnüren, die ihn versorgten. Die Parodie einer Mehrlingsgeburt. Wir lagen um ihn, wach in ein paar Augenblicken ohne Ablenkung oder Betäubung. Ich wollte mich aufrichten, umdrehen, sehen. Mein Körper entzog sich mir. Keine Möglichkeit, sich weiter als vielleicht eine handbreit zu erheben, dazu schon alle Kräfte aufbietend. Doch es gelang, unter Schmerzen und Anstrengung. Mein Rücken löste sich von der Bettstatt und ich konnte den Kopf drehen. Dämmerung um mich. Bevor meine Augen in Gewöhnung treten konnten, erschienen bereits Personen, die mich umstellten und mich sanft zurück in die Ruhe geleiteten. Bis heute kann ich meine Vermutung nicht mit Sicherheit bestätigen. Ob andere an ihn gekoppelt waren, weiß ich nicht.
Wer war er denn? Was fiel ihm ein, meinen Körper für sich in Anspruch zu nehmen? Jemand hat mich gelockt, verführt mit Geld und mich an ihn gekoppelt, mich nachträglich zum siamesischen Zwilling gemacht. Es drehte mir der Gedanke sein Gesicht zu, der sagte: Du mußt ihn loswerden! Wie? Die stillen Momente, ich könnte sie ausnutzen und meinen Haß produzieren und zu ihm hinüber senden. Partikel meiner Verachtung und meines Hasses konnten sich aus meinem Körper durch die Schläuche zu ihm bewegen, sofern man keine Filter gegen Gefühlspartikel installiert hatte. Gibt es solche Dinge? Ich wollte ihn töten, die Maschine verlassen.
Wenn es andere gab, dann konnte ich sie erkennen, dachte ich und begab mich auf die Suche. Die Wunden der Kanüle, die bei mir seit Monaten nicht abgeheilt waren. Vor allem aber der Blick. Ich hatte diesen fremden Blick Nicht, weil es mir gefiel, sondern weil es mich von den Grübeleien abbrachte, hielt ich das Ablenkungsprogramm aufrecht. Kein Nachdenken über das, was mir widerfuhr. Ich fühlte mich in meinem Kopf beobachtet von einer fremden Anwesenheit. Als sei etwas von seinem Geist in mich gedrungen. Als behauste mich ein anderer. Der Blick. Ich sah mich von außen her und innen. Ich sah mich an, wie man jemanden ansieht, den man lange nicht gesehen hat und zur Kenntnis nimmt, daß er jetzt einen Bauch oder weniger Haare hat. Aber die Befremdung war eigenartiger: ich nahm es zur Kenntnis, als sei einem ein zweiter Mund gewachsen und als sei das ein Vorkommnis, das gelegentlich passiert. Kontrollierte etwas mein Sprechen? Das Denken war solitär, mein Handeln gemäß den Erwartungen aller. Wir lebten sorgenfrei und im Licht einer gewissen gesellschaftlichen Achtung. Warum das so war und wie wir in diese Achtung gekommen waren, blieb unklar. Die Leute interessierte es auch nicht weiter. Sie nahmen mit Gelassenheit zur Kenntnis, daß wir in diesem Status waren. Nur meine Denken ruhte nur in der Zeit, die ich mir verordnete, um dem Wahnsinn zu entgehen. Gelegentlich suchte ich nach Fällen von auftretendem Irrsinn, Menschen, die Selbstmord begangen hatten. Bei unseren Spaziergängen in den Stadtteilen der besseren Gesellschaft, hielt ich Ausschau nach anderen, die auch den Blick haben. Den nach Innen gewandten Blick, mit dem wir uns selbst absuchen nach den Würmern, den Gedanken, den Sekreten, dem Blut und dem anderen.
Wer von uns beiden war ich? Sein eisiges Blut spürte ich in meinem Körper, keine Gewöhnung möglich. Jeder Pulsschlag drang durch die Schläuche mit einer neuen Welle seines Eisblutes durch mich, schwemmte mich auf, stach schwammig in mir. Was alles durch mich floß, will ich nicht wissen. Ich wollte nur weg.
Ich wachte wieder auf, traumlos geblieben, aber nicht gelähmt. Ich konnte mich aufrichten und fand mich in einem freundlichen Krankenzimmer. Die Wundmahle sagen mir, daß ich nicht geträumt hatte. Aber da lag nichts in meiner Nähe. Ich war verlassen. Der andere war nicht da.