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 Texte aller Art, Gedichte, Lyrik, Kurzgeschichten, Altbeiträge
Coline ( gelöscht )
Beiträge:

02.07.2007 15:00
RE: Mein Ich dreht durch Antworten

Mit der Erkenntnis, dass ich dieses Leben in dieser Form nicht weiterleben konnte, ging ich zu ihr und verabschiedete mich: „Ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Danke, dass Sie für mich da waren, wenn es mir schlecht ging. Dass Sie versuchten mir zu helfen. Ich war noch nie besonders stark in Situationen, die mich überforderten oder die meine Seele in einen tiefen Brunnen der Melancholie verschleppten! Vielen Dank für die Zeit, die Sie mit mir verbrachten. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und Ihrer Tochter, dass die Zeit ein besseres Schicksal bereithält oder dass Sie beide einfach mehr Widerstandskraft besitzen als ich.“ Es sollten für lange Zeit die letzten Worte sein, die ich bei klarem Verstand von mir gab. Ja, ich gebe zu, ich hätte das nicht tun müssen. Ich hätte einfach gehen können. Ich hätte das Risiko nicht eingehen müssen, aber ich war es ihr und mir schuldig.
Doch wenn ich jetzt so darüber nachdenke, war es von mir nicht auch rücksichtslos, ihr noch mitzuteilen, dass ich in eine andere Welt gehen werde? Aber das wiederum würde sie nur bewegen, wenn ihr etwas an mir liegen würde. Da das nicht der Fall ist, kann es auch nicht rücksichtslos gewesen sein. So, diese Logik schien mir einleuchtend und so wurde ich in dieser Sache ruhiger.

Die nächsten Tage ging ich weder zur Arbeit noch zur Schule. Mein Freund war ein Wochenende lang nicht da. Und anders als sonst, freute ich mich darüber. Diese absolute Ruhe gab mir die Freiheit mich verändern zu können, den Schmerz und die Erinnerungen hinter mir zu lassen. Mir eine neue Welt zu erschaffen. Meine eigene ganz persönliche Welt. Tja, ich musste einfach versuchen an diese Einbildung mit meinem ganzen Ich zu glauben. An eine Welt ohne Schmerz. Diese Stille tat mir und meiner Seele gut…

Ich muss mich entschuldigen, an den Sonntagabend habe ich keine gute Erinnerung. An die darauf folgenden Tage auch nicht. Meine Erinnerung ist sehr begrenzt. Wie ein roter Ball, schwarz befleckt und mit schreiendem Schweigen. Nuancen der Sinnlosigkeit und Schwerter der Qual trüben mein Erinnerungsvermögen. Alles verschwimmt. Alles was war, schien sehr weit von mir entfernt zu sein. Ich versuche mich zu orientieren, aber um mich herum ist nichts. Ich sehe keine Leute, ich höre keine Stimmen, ich weiß nicht wo ich mich befinde. Von außen betrachtet, fühle ich mich als bin ich ein zu früh geborenes Baby und liege in einem Glaskasten. Überall sind Schläuche, die meine Bewegungen, meinen Puls und meinen Herzschlag überwachen. Ich kann mich nicht verständigen und fühle mich hilflos.

… Tänze der Luftmoleküle…, ein Kreischen der Nerven in meinem Kopf…, ich spürte die lachende Angst wie sie meine Gedanken erwürgt…, verknotete Verwirrung…, lautlose Schreie meiner Seele…

Ich öffnete die Augen, blicke umher und stelle fest, dass ich mich in einer bekannten Umgebung befinde. Langsam wälzte ich mich aus meinem Bett und sah auf die Uhr, die sich gegenüber von meinem Bett befand. Die Uhr zeigte 05:43 Uhr. So, jetzt habe ich noch eine gute Stunde Zeit, bis mein Tagesablauf beginnt. Ich schaute aus dem Fenster und genoss es, die Natur erwachen zu sehen. Die Stunde verging schnell und wieder einmal begann der routinierte Ablauf: Frühstück, Physiotherapie, Kunsttherapie, Mittagessen, Mittagsruhe, Ergotherapie, Gruppentherapie oder Einzelgespräche, Freizeit oder am Wochenende Ausflüge, Abendessen, mein alltäglicher Abendspaziergang, schlafen. So verging die Zeit. Stunden wurden zu Tagen und Tage wurden zu Wochen…

Wieder einmal saß ich allein im Garten der Klinik. Es war wie immer. Ich saß auf der Parkbank und blickte umher. Ich genoss die Ruhe und Entspannung. Heute fühle ich mich sehr gut. Wenn ich so über die letzten Wochen nachdachte, muss ich sagen, ich fühlte mich noch nicht besser. Das lag wohl daran, dass ich keine einzigen negativen Gedanken hatte und auch keine schlimmen Träume oder Erinnerungen. Ich hatte ein komplett schönes Leben und alles fiel mir scheinbar zu. In der Ergotherapie beschäftigte ich mich vor allem mit dem Flechten und wie mir gesagt wurde, hatte ich ein angeborenes Talent. In der Kunsttherapie fand ich meinen ersten kreativen Gedanken und wandte mich den Stilrichtungen Impressionismus und Expressionismus zu. In der Gruppentherapie leitete ich oft neben der Therapeutin die Sitzungen bzw. versuchte im Vorfeld Schwerpunkte der Diskussion bei bestimmten Themen, die mich interessierten, zu erarbeiten. Ich beteiligte mich an allen Gesprächen und nahm meine Aufgabe sehr ernst. Früher machte ich mich über die Wirkung von einer Physiotherapie nur lustig, aber heute fand ich neue Entspannungsmöglichkeiten. Das alles freute mich unheimlich. Doch dieses gute Gefühl bezog sich nur auf alles, was in der Klinik geschah. Sobald sich mir Menschen näherten, verschloss ich meine Emotionen und boykottierte jede Kommunikation. Ich habe mir meine Welt erschaffen und ich brauche eure Welt nicht. Solche Gedanken waren meine Standpunkte und diese hielt ich auch in jeder Form streng ein.

An einem Wochentag sah ich meine Ärztin mit einer anderen Person am Fenster stehen, doch es war mir relativ gleichgültig. Ich erinnere mich nicht mehr an welchem Tag, aber da nur wenige Leute im Park waren, muss es unter der Woche gewesen sein. Für mich waren die Menschen nur noch schwarze Figuren ohne Gesicht, ohne Leben. Vor Wochen haben mich immer wieder Menschen besucht und auf mich eingeredet. Diese Momente habe ich gehasst. Gott sei Dank hat das größtenteils aufgehört. Ich bin lieber mit mir allein. Warum kann das niemand verstehen? Alle sagten, sie wollen mir helfen, doch ich brauche keine Hilfe, alles ist bestens. Doch auch jetzt noch kommen manche Menschen immer wieder. Ihre Namen merke ich mir nicht, aber ihre Gestalt prägt sich ein. Einige reden immer wieder mit meiner Ärztin. Ich beobachtete das von außen, aber im Grunde war es mir nicht wichtig. Nach solchen Besuchen drehte sich alles in meinem Kopf. Manchmal ist es sogar so schlimm, dass ich meine Umwelt anders wahrnehme. Es schien dann alles so öde. Alles um mich herum schien in ein tiefes grau getaucht. Und ich kann mich dann von oben betrachten und sehe eine tief verzweifelte Frau am Ufer sitzen. Alles an ihr schien traurig. Am meisten Angst machten mir ihre bzw. meine gebrochenen Augen. Ja, ihr leerer Blick und ihre Art wie sie saß. Tief nach vorne gebeugt, fast so als hätte sie keine Kraft mehr; weder fürs atmen noch fürs leben. Ich weiß nicht genau, ob ich in solchen Augenblicken besonders klar sah oder das nur träumte. Vielleicht war auch alles reine Einbildung.

„So sitzt sie Tag für Tag entweder an diesem Fenster oder dort unten am Fluss auf der zweiten Bank von links und starrt mit einem leeren Blick vor sich hin. Das Problem ist, wir können uns in keiner Art ihrer Seele oder ihren Problemen nähern. Schon beim kleinsten Versuch eine Art Kommunikationsebene zu schaffen, blockt Sie ab. Wir können ihr aber nicht behilflich sein bei den Dingen, die sie bedrücken, wenn Sie nicht den Willen hat, mit uns zu reden. Leider haben wir in den letzten Wochen auch das Gefühl, dass wir bei der Lösung ihrer Probleme sehr vorsichtig vorgehen müssen. Uns ist ebenfalls bewusst, dass ihr zurzeit selbst nicht klar ist, warum sie hier ist.“
„Was meinen Sie damit?“
„Sehen Sie“, „das Problem besteht darin, dass ihr Körper eine Art Scheinwelt aufgebaut hat, weil er mit dem Schmerz, den der Tod ihrer Freundin in ihr ausgelöst hat, nicht umgehen kann. Dabei ist es aber nur zu einer teilweisen Amnesie gekommen. Sie hat keine Schwierigkeiten damit, sich an vertraute Personen zu erinnern. Sie erkennt die Menschen und kann sie auch einordnen, aber nur bis zu dem Vortag des schrecklichen Unfalles. Ab diesem Zeitpunkt scheint ihr Gedächtnis alle Daten, aus Schutz für sie, gelöscht zu haben. Weiterhin hat sich jedoch in den letzten Wochen gezeigt, dass sie auf bekannte Menschen sozusagen allergisch reagiert, d. h. sie vermeidet auch hier jeden Kontakt. Antwortet weder auf Fragen noch ist zu erkennen, dass sie dem Gesprächsverlauf auch nur in irgendeiner Weise folgt.“
„Welche Möglichkeiten gibt es ihr zu helfen bzw. diesen eigenen Schutz rückgängig zu machen?“
„Tja, genau da liegt das Problem. Wir können ihr diesen Schmerz nicht ersparen. Wenn Sie bereit ist, mit uns zu reden, können wir sie mit Psychotherapie unterstützen, damit Sie diese schrecklichen und quälenden Ereignisse verarbeiten kann. Solange Sie jedoch in ihrer eigenen Realität lebt und auch kein weiteres Interesse an den Gründen, warum Sie in dieser Klinik ist und nicht zu Hause, zeigt, gibt es für Sie keine Hilfe.“

Ich sah die Person, die sich mit meiner Ärztin unterhalten hat, gehen. Ja, sie geht. Aber ich, ich kann nicht gehen. Ich kann nicht einfach fortgehen, wohin ich will. Ich bin hier gefangen. Ich erschrak über meine eigenen Gedanken. Ich war hier gefangen? Bitte, wie komme ich denn darauf? Ist das nicht mein zu Hause? Diese Gedanken ließen mich wehmutig werden. Außerdem fiel mir auf, dass ich schon öfters Gedanken dieser Art hatte. Ich denke, es ist an der Zeit, meine Gedanken zu Papier zu bringen, so wie ich es immer gemacht habe. Moment mal, wie ich es immer gemacht habe, vorher kommt denn dieses vertraute Gefühl bei dieser Sache? Ich habe doch noch nicht einmal seit ich hier bin, Tagebuch geführt. Seit ich hier bin? Dieses seit deutet doch daraufhin, dass ich mal woanders gelebt habe? Ich meine im interpretieren war ich noch nie gut, aber im analysieren schon. Ich stieß zeitweise auf Ungereimtheiten, auf Dinge, die mir Rätsel aufgaben. Überhaupt wundert mich gerade, dass ich ein so tiefes Gefühl von Vertrautheit in Bezug auf diese Person – die ich gerade gesehen hatte – verspürte. Fast wie Freude. Aber Freude kann man ja nur empfinden, wenn man jemanden mag und bis jetzt haben mich die Leute da draußen ja auch nicht interessiert. Da draußen? Was meine ich denn jetzt schon wieder damit? Langsam, ich muss überlegen. Wenn es ein da draußen gibt, muss es auch ein hier drinnen geben. So weit ganz gut. Ich bin drinnen und die Menschen, die mich besuchen, sind draußen. Und ich kann nicht einfach gehen. Also bin ich gefangen. Wenn ich aber gefangen bin, warum fühle ich mich dann hier so wohl? Nein, das macht keinen Sinn.

„Hallo Juri, doch du hast das richtig analysiert und das alles ergibt auch einen Sinn. Aber als erstes interessiert mich, wie es dir geht?“
Plötzlich wurde ich ganz aufgeregt. Ich konnte nicht genau beschreiben, was passiert. Die Stimme, die böse Stimme hat mich doch noch nie begrüßt und schon gar nicht in einem so lieben Ton nach meinem Befinden gefragt. Die Stimme hat mich doch immer nur ausgelacht. Sollte es das erste Mal sein, dass die Stimme sich verändert? Bilde ich mir das ein oder drehe ich gerade durch?

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