Sie sind vermutlich noch nicht im Forum angemeldet - Klicken Sie hier um sich kostenlos anzumelden  



 

Sie können sich hier anmelden
Dieses Thema hat 2 Antworten
und wurde 604 mal aufgerufen
 Texte aller Art, Gedichte, Lyrik, Kurzgeschichten, Altbeiträge
Felios Offline



Beiträge: 416

03.02.2008 02:30
RE: Tiefes Erwachen Antworten

Tiefes Erwachen

In der Ferne pfiff ein Zug. Der Wald war von kargem Bewuchs, wie man es in einem Wintermonat erwartete. Schnee bedeckte den weichen Waldboden. Hier und da ragten abgebrochene Äste und Zweige heraus. Das noch intakte Geäst der Bäume war mit Reif überzogen, das im fahlen Sonnenlicht leise glänzte. Es herrschte eine Totenstille. Die Tiere des Waldes hielten Winterschlaf oder hatten sich weit von den menschlichen Spuren entfernt, die sich in diesem Augenblick in die geschlossene Schneedecke frästen. Sie folgten einer kaum sichtbaren Fährte, deren Anfang sich in der nebeligen Waldlandschaft verlor. Die getretenen Spuren unterbrachen die trügerische Ruhe mit einem knirschenden Laut. Der Zug pfiff abermals. Die Spuren beeilten sich. Und wurden von einer mit lockerem Pulverschnee gefüllten Mulde gebremst. Knie sanken ein. Sie steckten in dicken, gefütterten Hosen. Die Hosen hielten der Kälte und Feuchte stand. Als sich auch die Oberschenkel aus dem Schneeloch herausgearbeitet hatten, konnten sich die Spuren im Schnee fortsetzen. Das Knirschen wechselte sich mit trockenem Knacken ab, wenn die Wanderstiefel einen hervorstehenden Ast trafen und zerbrachen. Augen. Sie flackerten unstet. Suchend. Der Kopf drehte sich nach links, nach rechts. Legte sich in den Nacken. Tauender Schnee rieselte von den Bäumen. Blendete den suchenden Augenblick. Der Mund öffnete sich. Ein gehauchter Schrei entwich. Der Mund schloss sich wieder. Keuchen. Die Nase sog frische, klare Luft ein. Der Rumpf beschleunigte die Schritte abermals. Langes Haar wehte im Wind. Vor ihr türmte sich plötzlich eine unüberwindbare Felswand auf. In dessen Mitte klaffte ein schwarzes Loch, aus dem ein Licht zu sehen war. Das Licht wurde rasch heller und größer. Schienen öffneten sich den scharfen Augen. Sie trugen einen Zug heraus. Die Ohren vibrierten, als erneut ein warnender Pfiff zu hören war. Die Muskeln spannten sich. Am offenen Bahnübergang blieb der Rumpf stehen. Der Kopf war im Geiste schon entrückt. Die Gedanken spiegelten die düstere Winterlandschaft wieder. Ein Hechtsprung rückte den Kopf wieder zurecht. Der Rumpf wurde abrupt von den Schienen weggerissen. Körper prallten aufeinander. Verwunderung trat in das blasse Gesicht mit den flackerten Augen. Wachsame Augen traten an ihre Stelle. Sie gehörten ihr nicht.

Zuerst fühlte sie Hass, dass er ihren Plan vereitelte. Doch als staunende Münder an verdreckten Fensterscheiben klebend an ihr vorbeifuhren, wich der bebende Vulkan in ihr einer matten Niedergeschlagenheit. Wie aus dem Nichts gesellte sich eine Hand zu den wachsamen Augen, die die Ihre fest ergriff. Die Hand war nackt und warm. Die Wärme durchstieß ihren Körper und zirkulierte bis zum Herzen. Die Leere darin wurde allmählich vertrieben. Das von beständiger Furcht getriebene Flackern in ihren Augen verschwand. Sie verstand kein Wort, als der Fremde weiter auf sie einredete. Seine Stimme hatte einen beruhigenden Klang. Es zählte nicht, was er sagte, sondern dass er es sagte. Langsam begriff sie, was gerade geschehen ist. Und geschehen wäre, wenn der Fremde sie nicht mit einem todesmutigen Sprung gerettet hätte. Sein sorgenvoller Blick zeigte ihr, dass er ihr noch nicht traute. Er befürchtete wohl, dass sie es noch einmal versuchen würde. Doch darin täuschte er sich.

Sie kehrte an jenen Tag zurück, der ihr Leben veränderte. Abermals liefen die Stunden und Minuten jenes Augenblickes ab, welche ihr so großen Schmerz zufügten, dass sie sich nur zu diesen einen Schritt imstande sah. Der sie nötigte, über ihren Schatten zu springen und alle Grenzen zu verlassen, die ein Normalsterblicher sein Leben lang respektierte. Sie wachte noch einmal auf, in ein weißes Laken gehüllt, das ihren nackten Körper bedeckte. Die Wände waren von einem penetranten Weiß, dass ihr übel wurde. Ein unangenehmer Geruch kroch in ihre Nase. Krankenhausgeruch. Sie schloss die Augen wieder und schlief ein. Der Schlaf schien ihr nicht lange vergönnt zu sein, denn ein herrisches Rütteln an ihren Schultern weckte sie schon nach ein paar Minuten, so dachte sie. Ein ernstes Gesicht schaute sie an. Falten durchzogen es. Der Chefarzt wollte ihr etwas mitteilen, das ihr nicht gefallen würde. Soviel stand für sie fest. Sie sollte sich nicht täuschen. Als die Wahrheit vor ihr lag wie auf einem Präsentierteller, war sie zunächst sprachlos. Dann weinte sie innerlich. Im Gedanken spielte sie bereits an einem Plan für ihr vorzeitiges Ableben. Dabei hätte sie die Diagnose verkraftet, wenn sie alleine mit ihr gewesen wäre. Immerhin war es eine Sache zwischen ihrer Seele und der Krankheit, die sie umwölkte. Nie würde sie die traurigen, mitleidigen Blicke vergessen, die die vertrauten Gesichter ihr zuwarfen. Verschämt, denn als sie sie erwiderte, schauten die Gesichter weg. Nach einer Woche, in der sie zumindest körperlich wieder zu Kräften kam, wurde sie entlassen. Vorläufig, denn ständige Kontrollen gehörten von nun an zu ihrem Leben. Sie belasteten sie. Erschütterten ihre Furchtlosigkeit. Die Furchtlosigkeit vor dem Tod.
Die Wunden schmerzten. Mit jeder Behandlung fühlte sie die Lebenskraft schwinden. Hundert Tage nach dem Tag, an dem sie aus dem tiefen Schlaf erwachte und mit dem sterilen, muffigen Krankenhausgeruch konfrontiert wurde, erlitt sie einen Ohnmachtsanfall und wurde erneut eingeliefert. Dann verschwand sie heimlich. Kehrte in ihre Wohnung zurück und zog sich die Sachen an, die sie nun am Leibe trug. Sie wollte noch einmal mit ihr alleine sein, ehe sie sich vom Zug der Vergangenheit überrollen ließ. Die Vergangenheit hätte sie beinahe eingeholt, doch etwas in ihr zögerte, als es soweit war. Der Zug war noch etwa dreihundert Meter entfernt, hatte sich in der kurvenreichen Tunnelfahrt verlangsamt und beschleunigte erst ab Tunnelausgang. Sie blieb auf dem Bahnübergang stehen und schaute den Koloss an, der sie vom Antlitz der Erde fegen sollte. Brachiale Gewalt gegen einen gebrechlichen Körper. Da wurde ihr klar, dass sie nicht ewig fliehen konnte. Dass Weglaufen nicht zum inneren Frieden führen würde. Selbst im Tod nicht. Gerade dann nicht, wenn keine Gelegenheit für eine zweite Chance bestünde. Der Fremde muss das Zögern in ihr gesehen haben. Er spürte wohl ihre Unentschlossenheit und das hatte sie gerettet.

„Komm mit mir! Ich bring Dich in Sicherheit“ – allmählichen fügten sich die unablässig gesprochenen Worte des Fremden zu einer verständlichen Aufforderung zusammen. Sie nickte nur und hielt die Hand des Fremden weiter fest umklammert. Er lächelte und deutete mit der anderen Hand in eine Richtung. „Es ist nicht mehr weit.“ Sie nahm an, dass er sie zu seinem Auto führen würde. Nach einer Viertelstunde erreichten sie eine verlassene Hütte im Wald, abseits der Schienen, abseits der Zivilisation. Sie ließ seine Hand los. Drehte sich um. Suchte nach seinem Auto. Als sie sich ihm wieder zuwandte, hielt er plötzlich eine Schrotflinte in der Hand. Da erst bemerkte sie die tätowierten Arme, in die Worte hineingeschnitzt waren. Worte, deren Sinn sich erst jetzt in ihren unsortierten Gedanken ergeben. Er lächelte wieder, da er ihren Augen gefolgt war. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Mit einer herrischen Geste befahl er ihr, die Hütte zu betreten. Doch sie blieb wie angewurzelt stehen. Der Wald würde sie beschützen, hoffte sie, doch er war karg wie zuvor. Totenstille. Der Fremde griff mit seinen fleischigen Fingern an ihre Schulter und stieß sie grob vorwärts. Harter Stahl bohrte sich ihr in den Rücken. Er durchdrang ihren Wintermantel. Sie berührte den Türgriff, drückte den Hebel herunter und die Tür schwang mit einem lauten Quietschen auf, welches die trügerische Ruhe wie ein Messer entzwei zerschnitt. Da begriff sie, dass sie sterben würde und im Gegensatz zu ihrem selbst gewählten Freitod der Wille eines anderen Menschen bis an ihr Lebensende dominieren würde. Sie blickte zurück. Der Fremde lächelte wieder, öffnete seine Jacke und sein Hemd, griff an seinen Gürtel... da gewahrte sie nebst der Tür eine verbogene Eisenstange im Schatten der Tür, die wohl einmal zu einem Karren gehörte. Mit einem Ruck fuhr sie herum, ergriff die Stange und schwang sie wie ein Samuraischwert um ihre Mitte. Ein schmerzverzerrter Laut ertönte, der ihr eine gute Nachricht verriet. Sie drehte sich um und erstarrte. Der Fremde hatte nur mit ihr gespielt. Leichtfüßig trat er einen Schritt zurück, sodass ihre Schlag ins Leere ging. Die Finger am Abzug der Flinte deutete die Mündung auf ihr Gesicht. Sie lächelte ihn an, ließ die Eisenstange fallen und ....

wachte auf. Die Ärzte standen um sie herum. Die Morgenvisite. In wenigen Stunden würde sie operiert werden. Reine Routine, sagten die Ärzte. Blinddarmentzündungen bedeuteten heute kein Todesurteil mehr. Der Anästhesist erklärte ihr, welche Risiken bestanden und welche Narkoseform gewählt wurde. Er zerstreute ihre Ängste, warf ihr einen aufmunternden Blick zu. Dann wurde sie in den Operationssaal geschoben. Ein Schwester maß ihren Blutdruck und verkabelte sie für das Elektrokardiogramm, das während der Operation aufgezeichnet werden sollte. Ein Zugang wurde an ihrem Arm gelegt. Dann trat der Anästhesist hinzu. „Du erhältst jetzt Sauerstoff – dann ein Narkosemittel. Atme einfach tief ein. Es kann nichts geschehen.“ Frische, klare Luft strömte in ihre Lungen. Sie dachte an den Fremden im Traum und bemerkte die Tätowierungen an den Armen des Anästhesisten. Sie wollte den Kopf drehen. Der Sauerstoff wich einem komisch schmeckenden Gas. Das Narkosemittel. Sie versuchte nochmals zu lesen, was die Tätowierungen bedeuteten. Sie spürte, dass es wichtig für sie war. Dann schwanden ihr die Sinne. Dann.... nichts mehr.

Felios, 03. Feber 2008

"Der beste Kenner einer Gesellschaft ist der Fremde, der bleibt." (Georg Simmel)

Schreiberling Offline




Beiträge: 2.222

03.02.2008 07:21
#2 RE: Tiefes Erwachen Antworten

Hallo Felios,
wird "sie" aus der OP wieder aufwachen, oder waren das Todesvorahnungen? Das kann der Beginn eines Romanes sein - wie geht es weiter? ...
Ich würde ihr einen Namen geben, um nicht immer nur "Sie" schreiben zu müssen.
Viele Grüße
vom Schreiberling

jf_berlin - View my most interesting photos on Flickriver

Felios Offline



Beiträge: 416

03.02.2008 20:05
#3 RE: Tiefes Erwachen Antworten

Hallo Schreiberling,
ich weiß noch nicht genau. Fühlte mich letzte Nacht inspiriert von sphärischen Klängen und wollte einfach mal wieder schreiben. Mein letzter literarischer Ausflug liegt schon fast zwei Jahre zurück. Eigentlich war es als Kurzgeschichte gedacht, vielleicht gibt es noch eine Fortsetzung. Ein Roman sicherlich nicht, dazu ist mein schriftstellerisches Können zu schlecht und meine Geduld zu klein.

Ich schreibe gerade an der Fortsetzung...

Gruß,Felios

[ Editiert von Administrator Felios am 05.02.08 2:43 ]

"Der beste Kenner einer Gesellschaft ist der Fremde, der bleibt." (Georg Simmel)

 Sprung  
Xobor Einfach ein eigenes Forum erstellen | ©Xobor.de
Datenschutz