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Felios Offline



Beiträge: 416

26.02.2008 00:35
RE: Die Linde Antworten

Die Linde

Eine knorrige Linde. Streife vorüber. Hebe eine achtlos weggeworfene Getränkedose auf und schleudere sie mit Wucht gegen den Stamm. Ein blecherner Schrei ertönt. Die Dose torkelt zu Boden. Flüssigkeit benetzt den Baum, der sich nicht rührt. Tatenlos zusieht. Tränen suchen sich ihren Weg in den Furchen der Rinde.

Erinnerungen werden wach. Ich nehme ein vergilbtes Foto, unsanft geknickt, aus meiner Hosentasche. Betrachte lange die verblassten, fröhlichen Gesichter. Groß und klein. Mir läuft es kalt den Rücken hinunter. Schweiß rinnt entlang den Armen. Tropft auf das Bild. Die Gesichter weinen.

Ein Schrei zerreißt die Stille um mich herum. Entschlossen nehme ich ein weißes, noch ungebrauchtes Taschentuch aus meiner Hemdtasche und wische die tränentriefende Rinde der knorrigen Lande trocken. Das Taschentuch zerreißt dabei. Fetzen flattern zu Boden. Die weiße Weste verliert ihren Glanz. Trotzig zerknülle ich die teilnahmslosen Gesichter mit meiner rechten, zur Faust geballten Hand. Es fällt mir nicht leicht... das Loslassen. Nun trägt sie der Wind davon. Meine Erinnerungen. Nie mehr möchte ich ihre Tränen sehen. Nimmermehr.

Sie schwieg zu alledem. Hielt sich überhaupt sehr bedeckt, mit ihren kräftigen Armen, die mich vor allen Gefahren beschützten. Selbst jenen, die von mir selbst ausgingen. Sie sah nur stumm zu, und weinte heimlich. Verträumt betrachte ich ihren wohlgeformten Körper, die natürliche Symmetrie, die ihr innewohnt. Für einen Augenblick vergesse ich meine Trauer. Ich denke zurück an die Blütezeit ihres Lebens.

Ein Sturm zieht auf. Er fegt das dichte Blätterdach vom Geäst. Der Schutz entschwindet.
Tropft auf meine verbrannte Haut. Ein Gerippe bleibt zurück. Entmutigt. Enttäuscht. Ausgebrannt. Verbannt. Ich greife nach den Erinnerungen. Die Bilder sind fort. Eine Getränkedose bleibt mir. Die Dosis macht das Gift. Nun unschädlich gemacht. Irgendwann
einmal wird sie mir verzeihen.

Felios

"Der beste Kenner einer Gesellschaft ist der Fremde, der bleibt." (Georg Simmel)

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