Liebe Leonie, ich hoffe du wirst trotz deiner Trauer, Wut und Enttäuschung den Wunsch verspüren, diesen Brief zu lesen und somit meine letzten Gedanken und Empfindungen zu erfahren. Mir ist das außerordentlich wichtig, aber ich könnte es auch verstehen, wenn du momentan nichts davon wissen willst … Ich werde einfach warten, bis dein Herz frei wird, um mir zu verzeihen. Bis dein Denken bereit ist, mich als Erinnerung zu bewahren.
Jetzt, wo ich diese Worte aufschreibe, fühle ich mich entspannt, denn ich weiß, diese Welt ist nicht mehr meine Arena des Kampfes. Die Schuld, die Traurigkeit, der Schmerz, die Zweifel werden mich bald nicht mehr zu einem Gefangenen in meinem eigenen Leben machen. Ich werde das Ende des Regenbogens besuchen. Die Ruhe der Farben wird meine Seele reinigen. Und dann, wenn ich erlöst werde, von den Schmerzen, die Löcher in meine Seele fressen, dann werde ich den Regenbogen herunter rutschen und das Spiel der Wellen genießen. Die grenzenlose Freiheit wird mein Bewusstsein umarmen und mir die Chance geben, zu vergessen.
Dieser Aphorismus ist mir seit seiner Entdeckung im Internet nicht mehr aus dem Kopf gegangen, weil er meine Meinung über die Kraft der Natur widerspiegelt:
Die Stille der Natur färbt deren Seele rein, die die Kraft besitzen, ihre Augen zu schließen und den Ausdruck des Herzens dem Atem des Windes zu verleihen. von Coline Weber
In meinen Worten liegt jetzt keine Wehmut, keine Verzweiflung, keine Angst mehr. Ich werde mich nun auch nicht mehr an dich klammern. Du, hast mich wahrscheinlich - eher unbewusst -, noch viele Wochen am Leben erhalten. Aber ich weiß, man darf die Verantwortung für sich selbst, nicht anderen Menschen übertragen. Es könnte schmerzvoll für diese werden …
Leonie, du weißt, dass die Silhouetten meiner Angst, durch so viele kleine Mosaiksteine zusammengesetzt werden. Dadurch ist es mir einfach nicht gelungen, das schwarze Loch in meinem Leben zu schließen. Wenn ich das erste Problem gelöst habe, waren wieder hundert andere da. Ich konnte nicht mehr das flammende Ufer der Hoffnung in meinem Leben finden. Ich weiß, nicht alles war schlecht, aber vieles erstickte meine Kraft. Nicht alles konnte ich in Worte fassen, nicht alles nonverbal vermitteln, nicht alles sichtbar machen.
Doch ich weiß auch, dass all diese Worte den Schock nicht mindern werden. Dass du unheimlich enttäuscht sein wirst. Es tut mir leid, dass du auf so eine tragische Weise lernen musst, dass manche Schmerzen allgegenwärtig sind und dass die Melancholie auch dann da ist, wenn man nicht mehr darüber spricht oder sprechen kann. Ich habe große Angst, dass deine Seele daran Schaden nimmt. Ich hoffe flehentlich, dass du deine Stärke bewahren kannst – für die ich dich so oft bewundert habe. Liebe Leonie, du warst ein so wundervoller Mensch. Die einzige, die jeden meiner zerbrechlichen Blicke aufgefangen hat. Diejenige, die meine Hand genommen hat und dabei sanfte Spuren in meinem Herzen hinterlassen hat. Du hast auch dann meine geschundene Seele in meinen Augen gesehen, wenn ein spitzbübisches Lächeln meine Lippen umspielt hat. Ich möchte dir danken: Für all die Worte, die mich oft wieder an den Sinn des Lebens glauben ließen. Für all die Zeit, die du mit mir verbracht hast. Für all die Gefühle zwischen uns, die man nicht beschreiben kann (auf freundschaftlicher Basis). Ich werde auch nicht den Versuch starten das Besondere, in Worte zu quetschen, denn es würde mir nicht gelingen. Für so etwas bedarf es größere Weiten, die es aber leider in dieser begrenzten Welt nicht gibt. Danke, dass du mir ein Kind der Hoffnung warst, mir Selbstvertrauen gegeben hast und mir so oft das Gefühl vermittelt hast, dass ich dir wertvoll war.
Ich bin mir sicher, dass ich einen Teil dieser starken Empfindungen mitnehmen kann – dorthin, wo ich von nun an existieren werde: immateriell und auf geistiger Ebene – um eine andere Welt zu entdecken. Vielleicht bin ich dann ein Teil des Windes oder ein Schmetterling oder ein neuer Stern am Firmament. Wer weiß, wo mich die Stille hintragen wird …
Ich habe dich lieb,
in ewiger Erinnerung
deine Kima.
Ich falte den Brief zusammen. In den letzten Tagen habe ich ihn oft gelesen und die Worte auf mich wirken lassen. Auch wenn ich voller Trauer bin, ist in meinem Herzen irgendwo ein Funke Beruhigung und ich fühle mich jetzt stark genug, von Abschied zu nehmen – ich bin ganz allein an ihrem Grab.
„Liebe Kima, ich wünsche dir, dass deine Seele durch die ewige Stille ihren reinen Glanz wiedererlangt und die grenzenlose Freiheit dein Herz überflutet. Möge sie dich von deinem innerlichen und schuldbefleckten Schmerz befreien. Für dich ist die Zeit der Agonie vorbei und ich hoffe, du findest deinen Platz in der körperlosen Welt. In meinem Herzen trage ich deinen Namen und unsere Erinnerungen. Ich hab dich lieb.“
Ich pflanze die rote Rose in die Erde auf ihrem Grab. Überall liegen noch die ganzen Kränze von ihrer Beerdigung. Eine der Aufschriften springt mir ins Auge: „In liebender Erinnerung deine Cousinen“. Mein Blick fällt auch auf den Kranz, den ich vor zwei Wochen niederlegt habe: „Warum? Deine dich innig drückende Freundin Leonie“. Ich beuge mich nieder und reiße das Band ab. Es ist, wie als würde ich sie von den Vorwürfen befreien, die ich von dem Zeitpunkt an gegen sie hegte, als man mir von ihrem Suizid berichtete.
Ja, ich kann das Gefühl nicht wirklich beschreiben, was meinen Körper gerade ergreift. Ich fühle diese Leere, die jeden Zentimeter meines Bewusstseins bedeckte und doch, empfinde ich gleichzeitig so etwas wie eine freudige Hoffnung, dass Kima nun frei ist.
Lächelnd, und doch voller Angst, wie ich ohne sie das Leben durchstehen sollte, machte ich mich auf den Heimweg.
…
Endlich kann ich begreifen, was Kima die letzten Wochen vor ihrem Tod gefühlt hat. Vieles von dem, was sie sagte, kann ich nun verstehen. Ja, es war doch so einfach. Warum habe ich nicht eher erkannt, dass sie Worte für die Bilder in ihrer Seele gefunden hat? Warum habe ich den Worten so viel Bedeutung beigemessen und vergessen, was Kima ausgemacht hat? Mir sind zwei Sätze in besonderer Erinnerung geblieben, da sie mich jene Fragen oft gestellt hat: „Leonie, lausche, kannst du sie hören?“, und „Hast du gehört, wie sie zerbrochen ist?“. Heute kann ich es endlich begreifen, sie hat zum einen von der Stille der Ewigkeit geredet und zum anderen von ihrer Seele. Ja, jetzt bin ich in der Lage, ihr Tagebuch zu verstehen, welches für mich bisher unverständlich war … „Danke Kima.“ Nun kann ich dir wieder nah sein. Es ist fast so, als ob du in meinen Gedanken, in meinen Gefühlen, in meinem Herzen wieder ganz lebendig bist. Ja, als ob du in jeder Sekunde meine Seele umwehst und ein Teil von meiner Aura bist.
Danke, in stiller Erinnerung, deine Leonie!
"Menschen mögen vergessen, was du ihnen gesagt hast, aber sie erinnern sich immer daran, welches Gefühl du in ihnen ausgelöst hast." (Carl W. Buechner)