Ich war zehn Minuten zu früh. Das sieht mir ähnlich, hatte ich gedacht. Das musste so kommen. Ich hatte einen flüchtigen Blick auf die Uhr geworfen, ehe ich - im Nachhinein vollkommen unnötig – hastig das Haus verließ und mich, wie sich dann herausstellte, zehn Minuten zu früh vor der Kneipe einfand. Vermutlich bin ich wieder der Erste, hatte ich gedacht, weshalb ich beschloss noch ein paar Minuten zu warten. Ich hasste das Warten, aber noch mehr hasste ich meine Überpünktlichkeit, die mich schon seit jeher in diese unglückliche Lage brachte. Die Furcht vor dem zu spät kommen ließ mich unbewusst, ja fast automatisch, weitaus früher aufbrechen als es notwendig wäre. Meine Furcht, zu wichtigen, möglicherweise lebensentscheidenden Terminen zu spät zu kommen, führte dazu, dass ich auch bei weitaus weniger wichtigen und nicht zwingend lebensentscheidenden ein übertriebenes Maß an Pünktlichkeit an den Tag legte. Darauf kann man sich verlassen, hatte ich gedacht, das Verlässlichste an meiner Person ist die Überpünktlichkeit. Beide Hände in den Hosentaschen schlenderte ich vor dem Lokal auf und ab, scheinbar ziellos mal in die eine, mal in die andere Richtung. Wenn ich jetzt hineingehe, hatte ich gedacht, dann habe ich die freie Platzwahl, dann stehe ich vor einem unvermeidbaren Risiko, einen Dialognachbarn zu bekommen, der nicht an einem Dialog mit mir interessiert ist. Der Abend geht dann zu Lasten meiner Kommunikation dahin, was ich keinesfalls beabsichtigt hatte. Meine Absicht war einen gemütlichen Abend unter Kollegen zu verbringen, mich anregend zu unterhalten, auch wenn sich schon von vorneherein durch die angekündigten Kollegen abgezeichnet hatte, dass eine tiefergehende, anspruchsvolle Unterhaltung wohl kaum zustande kommen würde. Dennoch hatte ich der Einladung zugesagt, eben diesen Abend in dieses Lokal zu gehen. Ich hatte mich extra beeilt, da ich pünktlich kommen wollte. Ich hasste es, zu spät zu kommen In einem prall gefüllten Lokal musste man sich, zu spät kommend, durch die Menschenmassen, die in den dichten Rauchschwaden beinahe versanken, ihre Gesichter unkenntlich wurden, quälen, stets alle im Auge behalten, denn unter dem blauen Dunst hielten sich meine Kollegen versteckt. Diese Vorstellung war mir zutiefst zuwider, da ich mich, in den Menschenmassen eingeschlossen, völlig exponiert fühlte, alle Augen auf mich gerichtet. Ich spürte regelrecht, wie beim Eintreten meiner Person alle Gesprächsthemen versiegten und alle, selbst jene, die mit dem Rücken zu mir saßen, zu mir herübersahen, mich taxierten, ob ich als Gast in diesem Etablissement willkommen war. Natürlich verunsicherte mich diese infame Bloßstellung meiner Person sehr. Die Privatsphäre wurde ausgelöscht, die Kleidung wurde von meinem Leib gerissen, ich fühlte mich nackt. Besser, ich warte auf meine Kollegen, hatte ich gedacht, und ich gehe gemeinsam mit ihnen ins Lokal. Ohnehin tut mir die frische Luft gut, hatte ich gedacht, das baut ein bisschen den Alkohol ab, den ich mir vor dem Weggehen in Form einer Flasche Bier eingeflößt hatte. Besser, ich versuche wieder ein wenig nüchtern zu werden, hatte ich gedacht, das kommt ein bisschen ungut, wenn man sich mit Maria unterhalten möchte. Als mich mein Kollege wenige Stunden vor dem vereinbarten Treffen anrief, hatte ich beiläufig nach Maria gefragt, ob sie denn auch mitkäme. Ich hatte es beiläufig klingen lassen wollen, was mir gründlich misslang. Doch mein Kollege ignorierte den erwartungsvollen Unterton in meiner Frage und antwortete mit einem emotionslosen Ja, was mich riesig gefreut hatte, was meine Hoffnung auf einen guten Abend sofort aufflammen ließ, ich mir aber natürlich nicht anmerken lassen wollte, da mein Kollege es auch so auffassen hätte können, dass mir seine Anwesenheit gleichgültig wäre, was keineswegs der Fall war.
Felios
"Der beste Kenner einer Gesellschaft ist der Fremde, der bleibt." (Georg Simmel)