„Ich habe ein Messer in der Hand. Ein massives Jägermesser, der Schaft ist von meinen Fingern umschlossen.“ „Was willst du mir damit sagen?“ „Die Klinge steckt in meinem Bauch.“ „Was? Du … was ist passiert, was tust du?“ „Ich habe mir das Messer in den Bauch gerammt, aber nicht weit genug, als dass ich davon sterben würde. Vielleicht verblute ich in den nächsten Minuten, vielleicht verliere ich das Bewusstsein. Ich könnte es herausziehen und dem Blut freien Lauf lassen, oder ich könnte es in der Bauchdecke drehen, so wie einen Korkenzieher, und meine Eingeweide darum wickeln. Ich könnte …“ „ - Warte mal. Warte einen Moment. Ich will jetzt wissen warum du das tust. Warum …?“ „Deine Frage überrascht mich jetzt ein wenig, wenn ich ehrlich bin… Sind wir Menschen nicht alle in erster Linie neugierige Geschöpfe? Wissbegierig, geradezu geknechtet von dem Trieb, das Unbekannte aufzudecken? Tu mir den Gefallen und beantworte mir eine Frage: Was, glaubst du, geschieht mit der Seele eines Selbstmörders?“ „Du glaubst an eine Seele?“ „Ich glaube an gar nichts. Ihr habt mir zu viel erzählt, alles davon widersprach sich selbst. Ihr habt angefangen, zu erzählen, noch bevor ich selbst sehen und denken gelernt hatte. Deshalb muss ich es selbst herausfinden. Was geschieht also, deiner Meinung nach?“ „… Vorausgesetzt, da ist eine Seele – ich meine, etwas, das nach deinem physischen Tod von dir übrig bleibt –, dann wird sie womöglich an den Ort deines Selbstmordes gefesselt sein und darin spuken. Oder aber, wenn du von der Theorie der Wiedergeburt ausgehst …“ „ – Ja, dann würde ich als Rind oder Schwein wiedergeboren und in jedem meiner weiteren Leben geschlachtet, niedergestochen werden. Und so weiter. Wie ist es mit der Belohnung?“ „Belohnung?“ „Ja. Angenommen, der Selbstmord ist der einzig richtige Ausgang aus dem Leben.“ „Jetzt gehst du davon aus, dass es DEN richtigen Ausweg gibt. Wie kommst du dazu?“ „Der Sinn des menschlichen Lebens liegt einzig und allein in der Art seines Todes, nicht wahr? Willst du etwas anderes behaupten?“ „… Ich könnte nichts beweisen.“ „Also. Ich lebe, um zu sterben. Nicht im Sterbebett, nicht bei einem Unfall, und auf den Krieg habe ich auch wenig Lust. Dann bleibt nur das Messer im Bauch und ein letztes, angenehmes Gespräch …“ „Was willst du von mir? Erhoffst du dir, dass ich dich von deinem Vorhaben abbringe?“ „Nein … wie könnte ich das. Es gäbe ohnehin nur einen Weg, wie du mich davon abbringen könntest.“ „Welchen? Dir die lebenswerten Passagen aus deinem Leben zu rezitieren?“ „Ganz und gar nicht. An meiner Stelle zu sterben. Und mir zu versprechen, mich als Geist oder körperloser Rest oder was auch immer besuchen zu kommen und das Geheimnis zu lüften.“ „Aha … Das Geheimnis des Jenseits?“ „Das Geheimnis des einzig richtigen Abgangs.“ „Ich will nicht sterben.“ „Aber du wirst es früher oder später tun müssen. Es wird dich womöglich ohne jegliche Vorwarnung treffen. Kannst du mit diesem Gedanken leben?“ „Ich will leben, das ist alles.“ „Um jeden Preis? Was, wenn ich dich als Geist heimsuche und es so einrichte, dass du von einer Klippe stürzt, ganz zufällig und ungeahnt … welch tragisches Ende.“ „Als Strafe dafür, dass ich dich nicht gerettet habe?“ „Nein, nur um dir etwas nachzuhelfen, im Leben voranzukommen. Ich würde dir eine Menge zukünftigen Ärger, eine Menge Enttäuschungen ersparen.“ „Das ist mir alles egal. Vielleicht bin ich ja auch bereits tot. Viel toter, als du jemals sein wirst. Vielleicht bin ich in diesem Leben gestorben und keine der weltlichen Enttäuschungen kann mir noch etwas anhaben. Vielleicht … !“ „Vielleicht, vielleicht - du weißt ja nicht einmal, wovon du sprichst. In deiner Stimme ist zu viel Leben. Zu viel Angst. … Wie ist es, das Wissen, dass ein Mensch, den man kannte, gerade stirbt?“ „Weißt du, ich kann dir nicht viel dazu sagen. Zumal es ein Mensch ist, den ich kannte und hasste, ohne ihn jemals verstanden zu haben. Wenn du tot bist, werde ich deine Nummer aus meinem Adressbuch streichen und dir vielleicht eine Kerze anzünden. Vielleicht.“ „Wie rührend, eine Kerze. Damit ich den Weg ins Totenreich finde?“ „Damit du nicht in meiner Nähe spukst, falls du denn tatsächlich spuken solltest.“ „Als ich dir die Lage vorhin schilderte, hast du ziemlich gejapst. Zumindest hat es sich für mich danach angehört.“ „Mach dir keine Hoffnungen. Jeder Mensch ist zunächst geschockt, wenn ihm ein anderer etwas so Heikles wie eine Selbstmordabsicht beichtet.“ „Das war keine Absicht. Ich bin schon dabei.“
„… Was jetzt? Soll ich warten, bis du röchelnd zu Boden fällst, und dann einen Arzt rufen?“ „Ich brauche keinen Arzt. Keinen, der mich womöglich noch zusammenflickt oder etwas rettet, das von mir übrig ist. Du kannst einen Totengräber rufen, wenn du Lust hast.“ „Können wir vielleicht über etwas anderes reden?“ „’Vielleicht’ ist heute dein Lieblingswort, wie? - Wir können über das Ding reden, das in mir war. Ich glaube, es rührt sich nicht mehr.“ „Ding? Du meinst…?“ „Der kleine Klumpen, der immer gesprampelt hat, wenn ich dieses Messer anblickte. Er hatte wohl begriffen, dass er sich zur falschen Zeit am falschen Ort befand, wie ein Idiot, der sich zwischen zwei Zugwaggons stellt, die gerade zusammengekoppelt werden.“ „Du hast ein Kind ermordet? Dein verdammtes Messer steckt gerade in seinem kleinen Körper und du sitzt seelenruhig da und plauderst mit mir?“ „Ich würde nicht seelenruhig sagen. Ich glaube, meine Seele zerrt bereits recht heftig an den Zügeln und hofft auf ein Loslösen.“ „Du bist unglaublich… Ist es wegen des Kindes?“ „Was? Der Selbstmord? Oh bitte, für was hältst du mich? Er war schon seit Monaten beschlossene Sache. Das Kind nicht. Die Selbstmordidee war zuerst da, also musste ich ihr den Vorzug geben. Das Ding hat sich zwischen uns zu drängen versucht, zwischen mich und das Messer, das war sein Pech.“ „… Was willst du eigentlich von mir? Warum erzählst du mir das alles?“ „Willst du es wirklich wissen? Ich an deiner Stelle …“ „Na los! Schluss mit dem Unsinn, was willst du von mir?“ „Du wirst ein Kind haben. Nicht heute, nicht morgen, aber irgendwann wird es so weit sein – du wirst ein Kind haben. Und weißt du was? – Ich werde dieses Kind sein. Ob du daran glaubst oder nicht, ist vollkommen irrelevant. Es wird entweder eine zweite Chance oder eine Strafe für mich sein. Oder aber es ist bloß der Lauf der Dinge. Das ist nicht der Grund, weshalb ich mich umbringe, es ist aber der, warum ich dich dabei angerufen habe. Weißt du wie das funktioniert, bei Mördern und Geplagten von Geistererlebnissen? Es sind die Stimmen – die Sterbenden vernehmen die Stimme dessen, der als Letztes mit ihnen spricht, und heften sich an diese Spur. Sie kleben sich in ihrer allerletzten Angst an eine menschliche Stimme, und folgen ihr immerfort, während der Körper verwest und verschwindet. Verstehst du mich?“ „… Du wirst nicht zu meinem Kind werden. Ich lasse dich nicht.“ „Wie denn? Willst du Bannkreise um das Zeugungsbett ziehen? Willst du mit Salz werfen? Oder nimmst du die sichere Methode und rammst mir deinerseits ein Messer in den Kopf, wenn ich in deinem Bauch vegetiere? Na? Schaffst du das? Wirst du mich töten?“ „Du bist schon tot. Stirb endlich und lass mich in Frieden. Ich habe dir nie Böses gewünscht, und du verfluchst mich mit all deiner Kraft …!“ „Tue ich das? Ich erzähle dir nur die Fakten. Ich bin neugierig, das ist alles. Beschere mir bitte eine gute Bestrafung, ich will den Dolch kommen sehen. Führe ihn langsam ein, gemächlich, damit ich dieses Bild in meinem Unterbewusstsein wirklichkeitsgetreu ablagern kann. Klopfe zweimal, wenn du so weit bist. Ich werde hinsehen.“
„Gut, ich werde dich töten. Wenn du es tatsächlich sein solltest, was da aus meinem Bauch kriechen wird, dann werde ich dich völlig vernichten. Auslöschen. Alle Spuren von dir beseitigen und dieses Kind so aufziehen, dass es sich nie an eine Existenz wie die deine erinnern wird. Nicht im Entferntesten. Nichts wird ihm einen Hinweis auf dich liefern.“ „Oh, du bist hartherzig. Wirklich. Aber ich glaube, es wird dir misslingen. Mein Schatten ist zu dunkel für deine kleine Sonne.“
„Um eine Sache hast du mich immer beneidet, nicht wahr?“ „Worum sollte ich dich denn beneiden? Ich kann mir beim besten Willen nichts vorstellen …“ „Ich liebe dich. Um diese drei Worte. Du warst nie fähig, sie zu äußern. Ob du gewollt hättest oder nicht, du hast es nie getan. Du hast es nie gekonnt.“ „Wem hätte ich solche Worte denn sagen können? Unserer Mutter etwa? Die so naiv war, dass sie mir stets alles abgekauft hat?“ „Naiv? Du nennst sie naiv, weil sie deinen Abschiedsbrief ernst genommen hat, den du aus kindlichem Spaß heraus verfasst und auf dem Küchentisch deponiert hast? Weil sie über deinem verzweifelten Wortschwall zusammengebrochen ist, den Brief mit ihren Tränen getränkt hat, bevor sie ins Koma fiel? Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, was du ihr angetan hast?“ „Ach komm. Du weißt, warum ich das damals tat. Ich wollte sie nur daran erinnern, dass ich ein kleiner, zerbrechlicher Mensch war, und kein programmierbarer Cyborg. ‚Mein Kind wird einmal dies, mein Kind wird einmal das, mein Kind ist so toll, so schlau, ich bin richtig stolz!’ – Ich kann es noch immer hören.“ „Du bist kein Mensch … du bist so – so kalt! Sie wusste, dass du kein Cyborg bist, sie wollte dich doch nur glücklich sehen, stark und glücklich, und …“ „Lassen wir das Thema. Unsere Mutter existiert jetzt irgendwo an einem anderen Ort, im Schlaraffenland oder dem Land der Träume, mag es Paradies oder Hölle sein, wie auch immer.“ „Warum nicht Nirvana? Warum nicht antimaterieller Raum der Unendlichkeit? Warum immer diese einfachen Denkmuster? Hast du etwa verlernt, beim Denken so richtig auszuholen? Oder hat dein ausströmendes Blut all deine Fähigkeiten mit sich hinausgespült?“ „Ich wette, du wirst es aufwischen müssen. Oder lässt du eine Putzkolonne antanzen? Reinigungskräfte, die meine Dielen von meinen Überresten befreien und wieder betretbar machen sollen?“ „Wie lange brauchst du noch?“
„Ich habe diese Worte nie gesagt, weil sie unwichtig sind. Du jedoch – du hast sie benutzt. Und ich meine benutzt. Du hast nie jemandem eine Chance gegeben, dich zu hassen, nicht wahr? Du bist ihnen allen zuvorgekommen mit deinem Lächeln und deinen warmen Worten, um nach ihrer Wohlgesinnung zu heischen, das hast du immer gut gemacht.“ „Ich habe jedenfalls kein Kind getötet.“ „Glaubst du? Weißt du, warum ich dich angerufen habe? Ich glaube, mich trieb eine lächerliche Hoffnung, von jemandem diese drei Worte zu hören, bevor ich sterbe. Selbst wenn sie geheuchelt wären, ich wollte wissen, wie sich das anfühlt, so zu sterben. Wie dumm von mir, sie von dir erhofft zu haben.“ „Von mir? Nachdem du unsere Mutter umgebracht hast? Nachdem du mich immer verachtet hast? Ich hätte auf meine Instinkte hören müssen, damals, als du geboren wurdest. Ich ahnte, dass du immer ein Dorn sein würdest in meinem Leben und dem meiner Mutter. Ich habe dich von Anfang an verabscheut, aber sie hat dich geliebt – was für ein Fehler.“ „Oh, jetzt wird es dramatisch. Danke für den Abscheu. Danke, du hast mich schon einmal getötet, und ich hoffe, du wirst dich erneut dazu herablassen. Keine Sorge, ich werde mich heimlich und leise in deinem Bauch einnisten und dich nicht weiter stören. Versuche, keine lebenswichtigen Organe zu treffen, wenn du mich durchbohrst. Du willst ja noch leben…“
„Stirb doch endlich.“ „Das habe ich getan, das habe ich schon längst getan … Welch schöne Stimme du doch hast…“