Afghanistan kommt nach 28 Jahren nicht zur Ruhe / Die „Berliner Umschau" sprach mit Dr. Matin Baraki
Matin Baraki ist Afghane und lebt seit den 70er Jahren im deutschen Exil. Er ist als Politologe an der Universität Marburg tätig und beschäftigt sich u.a. mit der aktuellen Situation in seinem Land. Mit Baraki sprach Charly Kneffel.
Berliner Umschau: Herr Baraki, verglichen mit dem Irak ist Afghanistan etwas aus den Nachrichten verschwunden. Das hat sich in den letzten Tagen geändert, weil es seit Mittwoch mehr als 200 Tote - Taliban, Soldaten, Zivilisten - gegeben hat. Wie ist denn eigentlich die militärische und politische Lage in Afghanistan?
Dr. Matin Baraki: Die Taliban, al Keida und ihre Verbündeten, unter anderem Hekmatyar, haben ein Bündnis geschlossen nach dem Krieg im Irak und jetzt haben sie eine Frühjahrsoffensive eingeleitet , wobei sie in der Lage sind, auch US-amerikanische Hubschrauber abzuschießen, was sie auch gemacht haben in Nordost-Afghanistan.
B.U.: Über welche militärischen Mittel verfügen sie denn noch und was ist mit al Keida?
M.B.: Ja, ich glaube, es wird versucht, immer alles al Keida in die Schuhe zu schieben, weil das gut propagandistisch wirkt. Aber in der Tat gibt es natürlich in Afghanistan verschiedene Gruppierungen, die gegen die Besatzer kämpfen. Es gibt Leute, die unter dem Label al Keida kämpfen ,aber es gibt auch die Taliban und es gibt Hekmatyar, der ja mit al Keida nichts zu tun hat. Und es ist ja so, früher war Afghanistan das Zentrum der Ausbildung, die man früher „Freiheitskämpfer" genannt hat und seit dem 11. September „Terroristen", heute findet das im Irak statt. Die Leute -auch aus Afghanistan - werden in den Irak geschickt und dort ausgebildet und dann kommen sie zurück und kämpfen in Afghanistan gegen die Besatzungstruppen.
B.U.: Nur nach Afghanistan oder auch in andere Länder?
M.B.: Hauptsächlich nach Afghanistan, weil Afghanistan und der Irak sind die Schwerpunkte, besonders der Irak, weil man im Irak dem Westen, der NATO, den USA zeigen will, daß sie dort ihre Politik nicht weiter betreiben können. Egal wie man den afghanischen Widerstand im einzelnen einschätzen will, muß man doch die strategische Bedeutung dieses Kriegs sehen, weil dort den USA die Grenzen ihrer strategischen Möglichkeiten gezeigt werden. Die Lage im Irak hat das den Amerikanern ganz drastisch vor Augen geführt.
B.U.: In unseren Medien liest man ja immer wieder davon, daß die US-Intervention dem „nation building" diene, daß die Menschenrechte und auch die Frauenemanzipation vorangebracht werden solle. Was ist denn davon zu halten?
M.B.: „Nation Building" ist die neue Variante des Kolonialismus. Früher, in der ersten Phase des Kolonialismus, wollte man ja auch den zurückgebliebenen Völkern Zivilisation und Kultur bringen. Erst will man die Mudjaheddin und andere niederkämpfen und dann soll das „nation buildung" beginnen. Wenn Sie sich Afghanistan heute ansehen, dann ist es in vier Besatzungszonen unterteilt genau wie Deutschland nach dem 2. Weltkrieg. Afghanistan ist faktisch ein Militärprotektorat der NATO und der USA , die afghanische Regierung besteht zu 50 Prozent aus „Ameriko-Afghanen", der Rest sind „Euro-Afghanen und nicht mehr als zwei sind andere, der eine ist ein Monarchist und der andere ein Warlord, ein Heroinbaron, der jetzt „Minister für Energie- und Wasserwirtschaft" ist.
B.U.: Welche Rolle spielen denn die Deutschen in Afghanistan?
M.B.: Die Deutschen sind Teil der Besatzungsmächte und die wollen natürlich auch erst mal perspektivisch Fuß fassen in Afghanistan. Die haben jetzt Militärbasen geschaffen für 250 deutsche Soldaten im nordafghanischen Kundus. Diese Militärbasen sollen dann, weil es die Basen in Usbekistan wahrscheinlich nicht mehr gibt, das Zentrum für Militäroperationen in ganz Mittelasien werden.
B.U.: Wie ist denn eigentlich die Haltung der Bevölkerung dazu?
M.B.: Die NATO und die USA haben in Afghanistan Glück mit der Bevölkerung, die im Koma liegt, ermattet von Krieg und Bürgerkrieg und das - könnte man sagen - ist eine der Trumpfkarten der NATO im Besatzungsgebiet. Von den vielen Millionen, die nach Afghanistan gehen, fließt das meiste in die Taschen, der Warlords, der Regierungsbeamten und anderen Leuten und von dort geht vieles wieder in den Westen über die Kanäle der NGO´s. Powell hat im Vorfeld des Krieges gesagt, die NGOs (Nichtregierungsorganisationen - C. K.) sind Bestandteil unserer Strategie und das kann man am Beispiel Afghanistans auch gut sehen. Das Geld, das der Afghanistanhilfe zugesagt wird auf internationalen Konferenzen, wird auf einem Sonderkonto bei der Weltbank geparkt und von da aus geht es an die NGOs, die NGOs geben Aufträge weiter an die einheimischen Firmen und die bauen etwas oder auch nicht , hier und da Schulen und Straßen, aber die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hat von dieser „Hilfe" überhaupt nichts . Die Leute kriegen gar nichts mit, sagen: hin und wieder kommen NGOs und fragen, was uns fehlt , dann gehen sie wieder zurück und wir sehen die nie mehr wieder bis zum nächsten Jahr, dann kommen sie wieder und stellen wieder dieselben Fragen. Also. Die Bevölkerung bekommt überhaupt nichts, es wird natürlich wieder aufgebaut, Häuser und Büros für die Europäer und die NGOs, also das ist eine Geldwäsche für die Drogenbarone , die ihr Geld auf internationalen Banken deponiert haben und heute in Immobilien investieren. Der Wiederaufbau findet überhaupt nicht statt. Der afghanische Wirtschaftsminister sagt, die Waren, die sie heute in Afghanistan auf den Märkten finden, sind zu 99 Prozent Importwaren. Afghanistan produziert fast nichts, gerade 1 Prozent und das besteht aus Drogen und Heroin, also mit diesem Afghanistan macht das internationale Kapital ausgezeichnete Geschäfte.
B.U. : Sehen Sie eine Möglichkeit, wie der Krieg in Afghanistan beendet werden könnte?
M.B.: Ich glaube, eine militärische Lösung gibt es in diesem Krieg nicht. Ich habe immer darauf hingewiesen, daß für Afghanistan eine politische Lösung möglich ist , das wurde aber von den Besatzungsmächten auf dem Petersberg nicht gewollt. In Afghanistan gibt es ein Sprichwort: Wenn das Wasser an der Quelle dreckig ist, dann ist der ganze Fluß dreckig. Die USA, die NATO haben das afghanische Wasser auf dem Petersberg dreckig gemacht und mit diesem Dreck müssen sie fertig werden und vor allem die Afghanen mit.
B.U.: Noch eine letzte Frage. In Afghanistan gab es im April 1978 die Saur-Revolution und bis 1992 behaupteten sich in Afghanistan verschiedene linke Regierungen. Was ist davon geblieben?
M.B.: Davon ist nichts geblieben. Also die Führung der VPA, der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, hat 1992 vor den Mudschahedin kapituliert und die Macht an die gemäßigten Mudschahedin übertragen. Es war eine geregelte Machtübertragung vollzogen worden, aber die Mudschahedin haben dann gegeneinander gekämpft und die Stadt Kabul völlig zerstört. Die Stadt Kabul war vorher von drei Sicherheitsringen der afghanischen und sowjetischen Armee abgeriegelt, man konnte zur Schule gehen , man konnte arbeiten, die Frauen konnten arbeiten, zur Schule gehen, zu Uni gehen , aber dann wurde Kabul völlig zerstört. Kabul sah so aus, wie die deutschen Städte nach dem 2. Weltkrieg. Die Mudschahedin haben die Stadt in sechs Bezirke unterteilt und die Grenzen vermint. Die Bevölkerung trauert dieser Zeit nach , auch auf dem Dort, wo ich jedes Jahr hingehe, weil ich von da herkomme. Die Leute sagen, wir haben damals die sowjetischen LKWs , die Lebensmittel brachten mit Steinen beworfen . Heute haben wir verstanden, was für einen fehler wir gemacht haben. Die Leute rufen nach Nadschibullah , dem letzten afghanischen Linkspräsidenten, damals haben die Leute Karten gehabt, für die sie sich Lebensmittel und andere Konsumgüter kaufen konnten. Heute kann sich kaum ein Afghane etwas leisten. Ein afghanischer Professor verdient etwa 300 Dollar und in Kabul kann er sich nicht mehr als ein Zimmer mieten. Wenn er Auto fahren kann, kann er am Nachmittag fahren und sich als Taxifahrer etwas Geld nebenher verdienen. Den Konsum haben die Warlords, die beamten und die NGOs. In Afghanistan gibt es 2.500 NGOs, die afghanischen, einheimischen Mittelschichtsunternehmer bekommen keine Aufträge . Einige haben sich dann selbst als NGOs beim afghanischen Planungsministerium registrieren lassen , um überhaupt Aufträge zu bekommen. Also von dem ganzen Wiederaufbau, von dem die deutsche Presse berichtet, merkt man in Afghanistan kaum etwas.
ZitatKarzais Bruder soll in Drogenhandel verstrickt sein
Ein Bruder des afghanischen Präsidenten Hamid Karzai ist nach einem als "geheim" klassifizierten Dokument der US-Armee in den Drogenhandel am Hindukusch verstrickt. Wali Karzai erhalte Bestechungszahlungen und erleichtere im Gegenzug den Drogenhandel, heißt es in dem Papier.
Washington - Der Geheimbericht sei auf einem USB-Stick gespeichert, der unweit des US-Stützpunktes Bagram bei Kabul auf einem Markt verkauft wurde, berichtet der US-Sender ABC. Auf Anfrage von ABC bestritt Wali Karzai, der sich in Kandahar im Süden Afghanistans aufhielt, jede Verwicklung in den Drogenhandel.
Das Dokument scheine indes echt zu sein, erklärte ABC. Darauf seien auch vier Trainingslager des Terror-Netzwerkes al-Qaida in Pakistan und die Namen von 16 führenden al-Qaida- und Angehörigen der Taliban aufgelistet, die sich vermutlich in Pakistan aufhielten. Nach Informationen der "Los Angeles Times" werden USB-Sticks in großer Anzahl von afghanischen Angestellten des Stützpunktes Bagram entwendet und für Preise zwischen 20 und 80 Dollar auf dem nahe gelegenen Basar versetzt.
MIttlerweile sind mehrere Milliarden Euros an Steuergeldern in diese Kriegsbeteiligung der Deutschen in Afghanistan geflossen. Das Deutschland am Hindukusch verteidigt wird, für diese Lüge sollte man Herrn Struck vor Gericht stellen, glauben tut das sowieso niemand mehr.
Zitat"Afghanistan ist Talibanistan" Nahostexperte Peter Scholl-Latour im ZDF-Interview
von Inga Hoff, Redaktion auslandsjournal
Am vergangenen Samstag hat ein Selbstmordattentäter in Afghanistan drei deutsche Soldaten und fünf afghanische Zivilisten getötet. Es ist der schwerste Anschlag auf die Bundeswehr in Afghanistan seit 2003. Derzeit wird heftig über den deutschen Auslandseinsatz diskutiert. Der Nahost- und Asienexperte Peter Scholl-Latour sieht die Bundeswehr in einer aussichtslosen Situation in Afghanistan und warnt vor einem Massaker.
ZDF: Welche Entwicklung in Afghanistan zeigt dieses Attentat?
Peter Scholl-Latour: Es gibt keine neue Entwicklung in Afghanistan. Es hat bereits mehrere Anschlagsversuche auch auf deutsche Soldaten gegeben, die aber glücklicherweise fehlgeschlagen sind. In Kundus traf eine schwere Granate den Versammlungsraum des Lagers, als die Soldaten ihn gerade verlassen hatten. Es war natürlich damit zu rechnen, dass dann eines Tages auch einmal eines dieser Attentate blutigen Erfolg haben wird. Das ist jetzt geschehen. An der wirklichen Situation ändert sich dadurch nichts, so tragisch es auch ist. Aber es macht auf einmal der deutschen Öffentlichkeit und der deutschen Politik klar, in welcher verhältnismäßig aussichtslosen Situation sich die deutschen Truppen in Afghanistan befinden.
ZDF: Welcher Zusammenhang besteht zwischen den Missionen der ISAF und der US-amerikanischen Operation "Enduring Freedom"?
Scholl-Latour: Im Gegensatz zu "Enduring Freedom" steht die ISAF-Mission für Stabilisierung und Absicherung in Afghanistan, nicht für kriegerischen Einsatz. Man hat aber in Deutschland nicht wahrgenommen oder nicht wahrnehmen wollen, dass die "Enduring Freedom"-Operation, die ja zu Beginn völlig berechtigt war, nachher mit der ISAF-Mission verschmolzen ist. Und wenn die deutsche Öffentlichkeit da schon schwer einen Unterschied machen kann, können die Afghanen es noch viel weniger. Außerdem stehen sowohl Enduring Freedom als auch ISAF unter dem Befehl eines amerikanischen NATO-Generals. Dadurch ist es für die Afghanen auch zu einem amerikanischen Besetzungsunternehmen geworden.
ZDF: Die Missionen vermischen sich also für die Afghanen?
Scholl-Latour: Sicherlich. Das ist ja auch etwas schwierig zu unterscheiden. Die ISAF-Truppen haben zwar kleine Schilder mit ISAF drauf, aber der Unterschied ist sehr schwer zu machen. Zumal ja auch gelegentlich die deutsche Elitetruppe KSK, die eigentlich bei der ISAF arbeitet, dann in der Operation "Enduring Freedom" tätig ist.
ZDF: Selbstmordanschläge waren früher bei den Taliban so gut wie unbekannt und mit der sunnitischen Religion schon gar nicht vereinbar. Erleben wir da jetzt die zweite Generation der Taliban-Krieger? Haben sie aus dem Irak-Krieg gelernt?
Peter Scholl-Latour
Scholl-Latour: Als die Russen in Afghanistan waren und einen endlosen Krieg geführt haben, da hat es noch keine Selbstmordattentate gegeben. Das ist relativ neu. Das hat im Grunde im Libanon begonnen im Jahre 1983, als schiitische Selbstmordattentäter eine amerikanische und eine französische Garnison unter sehr schweren Verlusten in die Luft jagten. Und dann haben die Palästinenser in ihrer totalen Verzweiflung und Hysterie diese Selbstmordattentate auch unter den Sunniten eingeführt. Der Irak hat das schließlich zu einer schrecklichen Anzahl von solchen Suizidaktionen anschwellen lassen und das greift nun auch auf Afghanistan über. Das ist im Grunde eine neue Methode des Kampfes, wie sie in der islamischen Rechtsgläubigkeit gar nicht vorgesehen ist.
ZDF: Die Taliban hatten zu Beginn des Jahres eine große Frühjahrsoffensive angekündigt mit einer Reihe von Selbstmordattentaten. War der Anschlag auf die Bundeswehrsoldaten der Anfang dieser Anschläge?
Scholl-Latour: Diese Frühjahrsoffensive war von den Amerikanern angekündigt worden. Die Taliban haben niemals eine Frühjahrsoffensive angekündigt. Es war im Prinzip eine Vorwegnahme durch die Amerikaner. Wenn die Offensive nicht stattfindet, dann können die Amerikaner auch sagen, sie hätten sie erfolgreich bekämpft. Es ist doch ganz klar, dass die Kampftätigkeit im Frühjahr, wenn der Schnee geschmolzen ist und die Wege wieder zugänglich sind, wieder aufgenommen wird. Aber ich würde da keinen unmittelbaren Zusammenhang sehen.
ZDF: Welche Wirkung hat das Attentat auf die Moral der Truppen?
Scholl-Latour: Ich glaube nicht, dass die Moral der Truppe dadurch wirklich erschüttert ist. Ich habe immer einen sehr guten Eindruck von den deutschen Soldaten dort gehabt.
ZDF: Verteidigungsminister Jung will am Einsatz festhalten. Ist es denn Ihrer Meinung nach an der Zeit, dass die Truppen den Hindukusch verlassen oder sollte man weiter in dieser oder anderer Form an der Mission festhalten?
Scholl-Latour: Ja, es gibt die Diskussion darüber, ob man das Ganze nicht in eine humanitäre Aktion umgestaltet. Wobei ich sagen muss, wir haben noch andere humanitäre Sorgen als Afghanistan, wenn wir zum Beispiel nach Afrika blicken.
ZDF: Ist es nötig, dass deutsche Truppen am Hindukusch bleiben?
Scholl-Latour: Die Behauptung, dass Afghanistan zum Tummelplatz für Al Kaida werden würde, stimmt einfach nicht mehr. Die Taliban haben keine besondere Sympathie für diese Fremden, die dort Krieg geführt haben im Namen des Islam. Außerdem sind die Al Kaida-Kämpfer auch schon gar nicht mehr in Afghanistan, sondern im Nordwesten Pakistans, und sie haben natürlich einen perfekten Übungsplatz im Irak-Krieg gefunden. Klar wäre es ein Unruhefaktor, wenn die islamischen Kräfte in Afghanistan wieder die Macht übernehmen würden, aber das beträfe die Russen und den Iran, der in offenem Konflikt zu den Taliban ist, viel mehr als uns.
ZDF: Sollte man die deutschen Truppen dann eher in anderen Staaten einsetzen als Afghanistan?
Scholl-Latour: Man sollte sich das genau überlegen. Wir haben ja auch auf dem Balkan noch keine endgültige Ordnung gefunden und das ist immerhin unsere unmittelbare Nachbarschaft. Heute führt Amerika einen globalen Gespensterkrieg gegen den so genannten "Terrorismus" oder "Islamo-Faschismus" und da müssen wir doch schon allein aus geographischen Gründen andere Positionen beziehen. Wir müssen vor allem unsere Nachbarschaft im Auge behalten, das nördliche Ufer des südlichen Mittelmeeres und den Nahen Osten. Unsere Kräfte sind begrenzt, das Budget der Bundeswehr ist erschreckend niedrig. Da sollten wir die Truppen bereithalten, damit sie in der Nähe eingreifen können und nicht weltweiten Interessen nachlaufen, die im Grunde die Interessen der Amerikaner sind.
ZDF: Gibt es seit dem Sturz der Taliban Fortschritte in Afghanistan?
Scholl-Latour: Nein, die Taliban sind dabei, im Süden und im Osten des Landes schon wieder weite Gegenden zu beherrschen. Man nennt das Land dort "Talibanistan". Die Sicherheit hat abgenommen. Im März bin ich sieben Stunden von Kabul nach Masar-i-Sharif durch das Land gefahren. Auf der ganzen Strecke habe ich keinen einzigen NATO-Soldaten gesehen. Das Land liegt für die Rebellion, sofern sie dort passiert, offen. Nach Kundus hätte ich mich erst gar nicht getraut. Aber auch die Region um Masar-i-Sharif, die von verschiedenen ethnischen Komponenten geprägt ist, kann eines Tages explodieren. Sollte es zu einem Aufstand der Stammesfürsten kommen - und den kann man nicht auf Dauer ausschließen - dann wären die deutschen Truppen da oben völlig isoliert und in ihren Festungen eingeschlossen. Es gäbe keine Möglichkeit, sie irgendwie abzutransportieren. Das kann man der deutschen Regierung vorwerfen.
ZDF: SPD-Chef Kurt Beck hat geraten, zukünftig mit den Taliban zu verhandeln. Wie sinnvoll ist das?
Scholl-Latour: Das passiert sogar schon teilweise. Eine Reihe ehemaliger Talibanführer sitzt in der Regierung Karsai und in den hohen Verwaltungsspitzen. Außerdem gibt es neben den Taliban auch andere Widerstandsgruppen, mit denen man sogar schon während der sowjetischen Besatzung in Afghanistan zusammengearbeitet hat. Grundsätzlich gilt: Wenn man verhandeln will, muss man mit dem Gegner verhandeln und nicht mit seine Marionetten. Insofern wären solche Kontakte durchaus sinnvoll. Die Taliban sind auch keine geschlossene Organisation, sondern es sind verschiedene Warlords, Stammesführer, die in ihrer jeweiligen Region das Sagen haben und darunter sind auch viele vernünftige Leute.
ZDF: Kann die Bundeswehr den ihr übertragenen Auftrag überhaupt noch erfüllen?
Scholl-Latour: Ich denke nein, denn sie hat ja auch noch keinen klar umrissenen Auftrag bekommen. Eine Armee ist nicht dazu da, Schulen, Krankenhäuser und Kindergärten zu bauen. Das ist zwar sehr lobenswert, aber wir haben dafür Organisationen in Deutschland, die das viel professioneller tun, beispielsweise die GTZ. Die Armee ist dafür da, Kampf zu führen. Aber da die Bundeswehr in Afghanistan im Grunde keinen Kampfauftrag hat, ist die Position ziemlich unsinnig.
ZDF: Herr Scholl-Latour, ist der Krieg in Afghanistan verloren?
Scholl-Latour: Ich würde nicht sagen, dass er schon verloren ist, weil ja im Norden beispielsweise noch gar keine Gefechte stattgefunden haben. Die Bundeswehr ist noch niemals in einem Gefecht gewesen. Aber man kann auch heute schon sagen, dass der Krieg nicht zu gewinnen ist. Daher sind die ganzen Äußerungen, dass man noch fünf oder zehn Jahre bleibe, im Hinblick auf die Soldaten schlicht unverantwortlich. Es kann eines Tages mal zu einem wirklichen Massaker kommen. Dann haben wir nicht mehr nur drei Tote und eine geringe Zahl von Verwundeten. Es könnte uns ergehen wie den Briten im 19. Jahrhundert, als eine ganze Garnison in Kabul abgeschlachtet wurde.