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Dieses Thema hat 1 Antworten
und wurde 724 mal aufgerufen
 Ablage Speakers Corner
Felios Offline



Beiträge: 416

08.03.2007 13:59
RE: Werteverfall im 21. Jahrhundert Antworten

Wo soll das alles noch hinführen?

Vielleicht eines vorweg - eine kleine, spannende Geschichte, die ich gestern als Augenzeuge miterlebt haben müssen.

Ich wohne gegenüber einem öffentlichen Weg, der sich den Hang hinaufschlängelt - in etwa vier langen Serpentinen. Viele Menschen laufen hier täglich vorbei. Von meinem Fenster aus habe ich eine gute Sicht auf sie. Es gibt immer etwas zu beobachten. Es ist wie ein Querschnitt der Gesellschaft. Es gibt Kinder (durch den nahegelegenen Kindergarten) und Alte. Studenten und Berufstätige. Penner und bürgerliche Schicht. Chaoten und Gesindel. Der Weg ist wie ein Spiegel unserer selbst, auch wenn er nur Bruchteile von Sekunden oder Minuten an dem Leben der Individuen teilnehmen lässt. Komplexe Biographien spinnen sich höchstens in der Phantasie der Beobachter zusammen.

Gestern sitze ich hier, wie jeden Mittag, und schreibe am Computer. Zufällig werfe ich einen Blick aus dem Fenster und sehe am Weg eine Gruppe Jugendlicher unterschiedlichen Alters. Ihr dunkler Teint, die schwarzen Haare und die unzweideutigen Gesichtsformen verraten, dass es Ausländer aus eher südlichen Gefilden sind. Wahrscheinlich Türken. Die Gruppe ist aufgeteilt - in einen Rädelsführer, mit schwarzer Hose und Jacke adrett gekleidet, hochgestellte, gegelte Haare und eine Zigarette im Mund vermitteln einen betont coolen Eindruck. Typisch für viele Jugendliche, nicht zwingend Ausländer, die glauben, das Aussehen sei ein Statussymbol, die glauben, Rauchen sei ein Mittel, um "cool" zu sein. Der Rest der Gruppe besteht aus etwa elf bis fünfzehn Jahre alten "Kindern", in dicken Daunenjacken, wie sie heutzutage gerne getragen werden. Ein Mädchen ist auch dabei. Ich beschreibe die Gruppe aber nicht aus bloßer Langweile so genau. Denn sie tut etwas. Sie steht um einen einheimischen Jungen herum, Schüler, etwa dreizehn Jahre alt, wie eine undurchdringbare Mauer. Der Rädelsführer hat sich vor dem Jungen aufgebaut, hält seine Hand an dessen Kinn und sagt etwas, das ich aus der Entfernung nicht verstehen kann. Unzweifelhaft ist es nichts Nettes, denn in den Augen des Jungen lese ich Angst. Der Anführer der Gruppe gibt dem Jungen einen Klaps auf die Backe und lässt ihn ziehen. Der Junge zieht davon, dreht sich um, in seinem Gesicht steht eine Mischung aus Wut, Trotz und Angst geschrieben. Die Meute lacht. Der Rädelsführer lässt sich feiern, bläst einem vorbeigehenden, älteren Passanten mit Hut seine Rauchwolke ins Gesicht. Eine ältere Dame, die die Gruppe passiert, dreht sich mehrmals um... ich seh ihren Blick nicht, höre kein Wort, aber ich kann mir denken, was ihre Mimik ausdrückte, was sie vermutlich gesagt hätte.

Es lag eine ungeheure Spannung in der Luft. Es gab keine Prügelei, ich habe keine Waffen gesehen, aber doch konnte man die Furcht mit den Händen anfassen. Die Furcht vor dem Mobbing dieser Gruppe. Die Ohnmacht, dass so etwas in der Öffentlichkeit auf einem vielfrequentiertem Weg passiert. Die verächtliche, unbändige Wut auf diese Feigheit, sich die Schwachen der Gesellschaft auszusuchen und zu zehnt oder zu zwölft auf einen Einzelnen loszugehen. Das Geltungsbewusstsein und die offenkundige Minderwertigskeitgefühle des Anführers, der sich nur in der Gruppe stark fühlt und sich von Jüngeren in seinen frevelhaften Taten bestärken und gar feiern lässt. Dies ist kein Problem von Ausländern, sondern tritt quer durch alle Gesellschaftsschichten auf. Hexenjagd und Kommunistenhatz haben es in der Vergangenheit schon vorgemacht. Guantanomo hat es verstaatlicht. Im Kindes- und Jugendalter wird es immer wieder geübt. Erwachsene behalten diese Unterdrückungsrituale bei. In der Gemeinschaft stark und feige. Wie geht es den Opfern? Wie oft wird der Junge diesen Weg in Angst vor seinem Peiniger entlang laufen müssen? Handelt es sich gar um Schutzgelderpressung? An wen kann sich der Junge wenden? Die Polizei macht gar nichts. Die Meute streitet alles ab, sind sowieso nicht straffähig. Der Junge sagt aus Angst vor Vergeltung nichts. Es bleibt beim status quo und es wird weitere Opfer geben. Die Erziehungsberechtigten sehen weg. Die Schule ist machtlos. Beide schieben sich gegenseitig die Schuld zu. Die Politik schafft nicht die Rahmenbedingungen für richtige Erziehung und für Arbeit, für Jugendtreffs... Kinder wachsen in einer Welt voller Scheiße auf und verhalten sich auch so. Kinder lernen stark von ihrer Umwelt. Wenn das soziale, gesellschaftliche, finanzielle und politische Umfeld ungünstig ist, wie sollen sich Kinder dann als soziale Wesen entwickeln? Wie sollen Gefühle, Empathien und die positiven Eigenschaften eines Einzelnen hervorgehoben werden, wenn Zigaretten rauchen, Klamotten und Technik als Statussymbole eine kalte, von Konkurrenzfähigkeit und niemals Schwäche zeigende Welt vermitteln, in der Kinder aufwachsen?

Es wird sich leider alles wiederholen. Es wird nur noch schlechter werden. Es wird erst Tote geben müssen, sei es durch Amokläufe oder durch übersteigerte Aktionen solcher Gruppen... die wachrütteln, die vielleicht zu einem Umdenken bei allen bewegen. Solange das nicht passiert, wird man weiter wütend sein, ohnmächtig, angstvoll...

Felios, 08. März 2007

"Der beste Kenner einer Gesellschaft ist der Fremde, der bleibt." (Georg Simmel)

Schreiberling Offline




Beiträge: 2.222

09.03.2007 08:10
#2 RE: Werteverfall im 21. Jahrhundert Antworten

Hallo Felios,
als Großstädter kenne ich solche Szenen, wie du sie beschreibst zur Genüge. Es liegt wohl in unserer "Natur", dass sich die Schwachen noch schwächere aussuchen, um auf ihnen rumzutrampeln. Dieser "Anführer" ist doch eigentlich eine Witzfigur. Er wirkt nur so, weil er es geschafft hat, eine Schar von Ausgestoßenen um sich zu rotten, die noch schwächlicher als er sind. Und denen gibt er das Gefühl stark zu sein, wenn man nur zusammen hält. Und dieses Gefühl erlangt man nur, wenn man sich einen noch schwächeren als Opfer sucht. Ein Teufelskreis wird es, wenn dann das Opfer sich seinerseits mit anderen zusammen tut, was ich auch schon erlebt habe.

Das alles hat aus meiner Sicht vor allem damit zu tun, dass diese Gesellschaft in der wir leben, vielen Menschen (zunehmend mehr) keine wirkliche Perspektive gibt. Nicht jeder hat das Zeug zu studieren. Aber ist er deswegen gleich ein schlechterer Mensch? Überhaupt nicht! Man muss besonders auch einfache Arbeit anbieten. Der Mensch ist Mensch durch seine Arbeit. Er will produktiv sein, was schaffen, gebraucht werden, Aufmerksamkeit genießen - jeder für sich und jeder in seinem Umfeld. Haben die Leute Ausbildungsplätze und Arbeit, dann wird es sicherlich immer noch vereinzelt Typen geben, die mit sich und der Welt nicht klar kommen, aber das sich solche Gruppen bilden, das ist dann sehr unwahrscheinlich.

Ich habe mal den Staatsbesuch von Indirah Ghandi in einem Werkzeugmaschinenwerk der ehemaligen DDR miterlebt. Voller Stolz zeigten die Werkzeugbauer ihre Maschinen, die vollautomatisch arbeiten konnten, wo Roboter die Maschinen mit Werkzeugen bestücken, wo ein Knopfdruck reicht und eine Maschine so schnell wie zehn Arbeiter ist.
Die kleine Frau sagte da einen Satz, der sich mir sinngemäß tief eingeprägt hat. "Ich in Indien brauche keine solch schönen Maschinen, mit denen ich hunderte Menschen einsparen kann. Ich brauche Arbeit für hunderte Millionen Menschen, und da ist mir ein Spaten näher als ein Bagger."

Wir leben in einer technisierten Welt, wo wir Menschen uns immer mehr aus der Produktion heraus sparen. Von der Politik erwarte ich, dass sie dann andere nützliche Arbeit für die Menschen findet, dass die aus den Einsparungen gewonnenen Profite eingesetzt werden, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Allein, wenn man Sportgemeinschaften aufbaut, die ordentliche Trainer haben, Tanzkurse für Jugendliche, mit ordentlichen Tanzlehrern, Arbeitsgemeinschaften zu verschiedensten Themen, die einen ordentlichen Gruppenleiter haben usw. sowas in der Art - das sind Arbeitsplätze, die der Gemeinschaft nur am Anfang viel Geld kosten. Wenn man dagegen aufrechnet, wie man Kinder, Jugendliche in geordnete Bahnen bringt, wie man damit Kriminalität wirksamer bekämpft, als es eine Polizei je tun könnte, dann rechnet sich das.

Nur ist es eben nichts für ein Gesellschaftssystem, in dem sich der Mensch freiwillig dem Kapital unterwirft und alles unter der Fuchtel des Profites steht.

Viele Grüße

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