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Dieses Thema hat 0 Antworten
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 Texte aller Art, Gedichte, Lyrik, Kurzgeschichten, Altbeiträge
Takashi Bohemea Offline



Beiträge: 1

11.03.2011 16:02
RE: Als wäre es nie passiert Antworten

Ich schreibe gerade einen Roman. Ich poste mal hier das erste Kapitel. Mehr gibt es auch in meinem Blog zu lesen. http://niepassiert.blogspot.com/
Bin gespannt auf Feedback.


Prolog / Als wäre es nie passiert

Ein lauter Knall und alles ist vergessen, was wehtat. Oder: von einem Moment auf den nächsten kann ich mich an gar nichts mehr erinnern. Es ist alles weg – bumm.

Wenig Einfluss haben wir darauf, an was wir uns erinnern und was zunächst im Filter des Vergessens hängen bleibt und dann ohne eine Spur verschwindet. Dabei spielt sich, auch wenn wir uns noch so sehr um Gegenwärtigkeit bemühen, das Leben doch zu einem immens großen Anteil in der Vergangenheit ab. Während wir im Jetzt leben wollen und sterben müssen, ist unser Kopf beinahe pausenlos damit beschäftigt, das Gestern zu verstehen und Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Selbst wenn wir versuchen, über die Gegenwart nachzudenken, ist aus ihr im selben Moment schon die Vergangenheit geworden. Die Gegenwart – es gibt sie gar nicht.

Woran wir denken, wenn wir glauben, an die Vergangenheit zu denken, ähnelt aber nur sehr entfernt dem, was tatsächlich passiert ist. Wir legen nämlich keinen objektiv messbaren Wert zugrunde, sondern das, was irgendeine Instanz, auf die wir nur einen sehr geringen Einfluss haben, für erinnerungswürdig erachtet hat. Wer auch immer diese Auswahl vornimmt, wir selbst, unser Unbewusstes oder sogar Gott, er erschafft uns damit ein zweites Leben. Ein virtuelles Parallelschicksal.

Alles weiß, nur dort hinten in der Mitte hatte jemand ein kreisrundes Loch gebohrt. Unter der zentimeterdicken Schicht aus Eis konnte man das Wasser des Flusses fast genauso fließen sehen wie im Sommer. Allein, es wirkte klarer und frischer als in den Sommermonaten, in denen es durchzogen war von Treibgut, Algen und braunem Sand. Der Anblick war einfach unwiderstehlich, er musste springen. Warf seine Kleidung von sich und kopfüber hinein.

Er hielt die Luft nur kurz an, und atmete dann, es überraschte ihn selbst wie leicht das war, einfach weiter. Das kalte Wasser fühlte sich in seinen Lungen an wie frische Bergluft. Er öffnete die Augen und sah die Unterwasserwelt deutlich und scharf. Schwärme von Fischen kreuzten seinen Weg und berührten ihn freundlich, als wenn sie ihn streicheln wollten. Keine Schwerkraft war mehr da, die ihn am Boden festhielt, er schwebte im Wasser und schwamm neugierig von einem Ort zum nächsten. Es war ein Leichtes, sich zu bewegen. Hinab zum Grund und wieder an die vereiste Oberfläche, durch die er in milchigen Schwaden das Tageslicht durchscheinen sah.

Ein anderer Mensch auf dem Eis. Die dumpfen, hektischen Geräusche der Schritte störten die himmlische Ruhe Unterwasser. Dann eine Handfläche. Durch die Eisschicht erkannte er das angstverzerrte Gesicht seiner Mutter. Sie pochte mit der Faust auf das Eis, so was wolle sie es durchbrechen. Nein, nicht weinen. Luft, er brauchte sofort Luft und wollte auftauchen. Er musste das Loch in der Oberfläche wiederfinden, durch das er hineingelangt war ins Wasser. Er wollte hier heraus. Jetzt. Aber er konnte sich nicht schnell genug bewegen, das Wasser glitt durch seine Finger. Es war viel zu kalt und seine Gelenke waren steif. Und er konnte den Ausgang nicht sehen. Sie rief seinen Namen. Ich bin hier. Als er zu antworten versuchte, sog er das kalte Flusswasser in seine Lungen. Ein Reflex wollte Mund und Nase verschließen, ihn vor dem Ertrinken bewahren, ein anderer Reflex zwang ihn zum Atmen. Das konnte er ihr doch nicht antun; sie schrie.

In dem Augenblick, als der seelische Schmerz, der Abschied von seiner Mutter, unerträglich wurde und die körperlichen Schmerzen des Ertrinkens hätten einsetzen müssen, starb er nicht. Seine Gedanken wanderten weiter, wanderten, ohne eine Spur in seinem Gedächtnis zu hinterlassen. An einen anderen Ort. So als ob es gar nicht geschehen wäre.




1. Kapitel: Rasmus

Sieben Minuten immerhin. Es hatte tatsächlich sogar etwas länger als sieben Minuten gedauert, bevor der Gedanke an den Tod seiner Mutter Ras‘ Gehirn wieder besetzt hatte. Er war durch sein Schlafzimmer geflogen, auf Ras gesprungen und hatte schließlich gezielt an allen Synapsen angedockt. Und er ließ ihm keinen Ausweg mehr frei, noch an etwas anderes zu denken. Keinen Gedanken außer ihn. Hier war er wieder. Wiederaufgetaucht aus der nächtlichen Versenkung zwischen Traum und Verdrängung. Und er blieb.

Ras setzte sich in seinem Bett auf. Ihm war dies alles schon allzu gut bekannt. Seit etlichen Wochen, seit geraumer Zeit. Von diesem Augenblick an würden Erinnerungen, Fantasien, Zorn und Traurigkeit in seinem Kopf wüten wie kriegerische Brigaden. Über viele Monate hinweg war er morgens immer mit denselben Bildern vor Augen und denselben Monologen in seinem Kopf aufgewacht. Jeden verdammten Morgen aus dem Schlaf gerissen von der brutalen Realität. Die stetige Wiederholung ergab wenig Sinn: Natürlich war es nach all dem, was geschehen war, dringend notwendig, das Erlebte zu verarbeiten. Um das zu erkennen, benötigte man keinen Magister in Psychologie, immerhin war jemand gestorben und Ras war noch minderjährig. Aber seine Gedanken waren inzwischen völlig zwanghaft und unproduktiv, sie steckten in einer Sackgasse wie eine Schallplatte, die immer wieder zurücksprang und nicht zum Ende kam. Andererseits: in der letzten Zeit war es etwas weniger geworden. Da waren einige Tage gewesen, an denen hatte er sich beim Aufwachen, in der kurzen Zeit, in der Traum und Wirklichkeit noch nicht klar auseinanderzuhalten waren, für einen kleinen Moment noch gut und gesund gefühlt, so wie früher, und war dann doch kalt überfallen worden von dem Gefühl. Da war seine eigene böse, verzerrt-sarkastische Stimme, die innen drin immer wieder wie eine abgespaltene zweite Persönlichkeit zu ihm sprach. Auch jetzt: „Guten Morgen. Hier sind wir wieder, Ras, in der richtigen Welt. Deine Mutter totgefahren von einem Geisterfahrer. Willkommen im wirklichen Leben, in dem alles, alles, deine ganze Zukunft und deine gesamte Vergangenheit beherrscht werden von der Tat eines lebensmüden, betrunkenen Wichsers. Du kommst hier nicht raus. Tatsache. Du kannst sie leugnen, kannst versuchen, sie abzuschütteln, aber du wirst sie niemals mehr loswerden.“

Er warf einen Blick zum Fenster. Kaum Tageslicht im Dezember, der Tag hörte auf, bevor er überhaupt angefangen hatte. Da fielen ein paar Schneeflocken, die aber nicht liegen blieben. Heute Morgen, da war das Aufwachen genau genommen ein wenig anders gewesen als sonst. Sein Kopf war voller Dunst. Dichter Nebel, der die Orientierung erschwerte. Er brauchte lang, um zu verstehen, wo er war. Ach, nur zuhause, oder besser: Allein in seiner Wohnung. Wie spät war es? Zu früh. Immer zu früh. Aber Weiterschlafen ging jetzt nicht mehr, dafür waren die Gedanken schon zu laut und er zu ausgenüchtert. Er konnte sich selbst nicht fühlen, hatte keinen Bezug zu sich selbst. Fast hätte er sich in diesem Moment fragen wollen, wer er war, doch, nein, das wusste er heute Morgen noch genauso gut oder so wenig wie gestern.

Aus seinem Bauch kam ein glucksendes Geräusch. In Ras’ Körper fand in diesen Stunden ein hochkomplexer Abbauprozess statt. In den Millionen Jahren Evolution war es dem menschlichen Organismus möglich geworden, sich – vorübergehend und zeitlich begrenzt - dem Genuss chemischer Substanzen auszusetzen, sich dem verwirrenden Spiel von Illusionen und falschen Gefühlen hinzugeben und zugleich aus eigener Kraft alles zu tun, um die Zellen, die Organe, das Blut zu reinigen, den Lauf der Natur wieder herzustellen - und den Kopf zu klären. Klar war Ras’ Kopf aber noch lange nicht. Und die Drogen, die er heute Nacht in seinen Körper gefüllt hatte, waren dabei das geringste Problem.

Wer wollte sich schon anmaßen, ein Urteil darüber fällen? Er hatte alles versucht, den Gedanken an seine Mutter, an ihre letzten Momente im Krankenwagen, an ihre Schmerzen und an diese himmelschreiende Ungerechtigkeit aus seinem Kopf zu löschen. Steuerung, Alt, Delete. Herunterfahren und neu starten. Neu anzufangen gelang ihm nicht. Quälende Grübeleien, die in ihm fraßen wie ein Wurm. Andauernd benötigte er neue Stimulation durch äußere Reize, wenn er nicht seine Aufmerksamkeit sich wieder nach innen lenken lassen wollte. Nach innen zu ihm selbst, zu seiner Herkunft, immer wieder zur Mutter. Er umklammerte sein Kopfkissen und sog den Geruch ein.

Dann erhob er sich schwerfällig aus seinem Bett. Rücken, Hals, Extremitäten, alles funktionierte noch. Bewegung hatte seine Leiden zeitweilig gelindert. Er war durch die ganze Stadt gerannt. Nachts allein vorbei an den Häusern seiner schlafenden Freunde und tagsüber im Gedränge auf der Einkaufsstraße. Eine um die andere Stunde, längst jenseits von Fitness und Kondition. Der innere Schmerz ließ nach, wenn der körperliche kam, aber nur solange er nicht stehen blieb. Wenn er dann nass geschwitzt in seiner Wohnung ankam und sich unter die Dusche stellte, mit halb geöffnetem Mund das Duschwasser trank, schon da griff die Vergangenheit wieder nach seinem Bewusstsein. Mutter. Mutter. Tot, Tod, tot. Mami. Er schlug sich mit der Hand gegen die Stirn, knetete seine Schläfen, rief müde: „Lass mich endlich in Ruhe.“ Aber natürlich, das hörte keiner.

Getrunken hatte er auch. Viel zu früh, viel zu viel für sein Alter. Alkohol, der Welt meist geliebtes und verteufeltes Schmerzmittel. Alkohol hatte ihm sogar kurze Momente des Vergessens beschert. Kurze Verschnaufpausen in den Dauerschleifen seiner immer gleichen Gedanken. Kurze Momente, in denen er sich erinnerte, was Freude war. Und es stimmte nicht, was gesagt wurde. Alle Warnungen der Lehrer, der Ärzte und der trockenen Alkoholiker vor dem falschen Freund. Nein, das Trinken sei keine Hilfe, löse keine Probleme, verschlimmere nur alles. Aber das war nicht einmal die halbe Wahrheit. Die stereotypen Urteile der anderen waren bloße Manipulation, damit nicht alle Traurigen der Welt zu Trinkern würden. Seichtes Bla-Bla! Alkohol änderte alles. Alkohol war in der Lage, neue Welten zu erschaffen. Nichts schien besser zu helfen gegen diese Last als das Trinken. Keine Bücher und keine Sitzungen bei seinem Therapeuten. Aber die Entlastung fand eben auch nur so lange statt, bis Ras am nächsten Morgen, so wie heute, mit schweren Gliedern aufwachte. Seine Schläfen pochten, aus seinem Magen stiegen ätzende Dämpfe hoch und an manchen Tagen hatte er schon geglaubt, seine Leber zu spüren. Doch was waren schon die körperlichen Schmerzen verglichen mit dem, was er seit jenem Tag damals durchmachte? Entgegen dem, was man ihn gern glauben gemacht hätte, war ihm bewusst geworden, und zwar ohne Zweifel und kristallklar, dass nicht Freunde, nicht Ärzte, schon gar nicht die Familie, nur Drogen das Monster Depression aus seinem Rumpf jagen könnten. Und wenn ein Schaden an seiner Gesundheit, anhaltender Kopfschmerz, früher Verfall oder sogar Krebs damit verbunden war, dann war das ein Preis, den er in seiner Verzweiflung bereit war zu zahlen. Nur mit einer solchen von außen gesteuerten Bewusstseinsveränderung könnte er dieses Etwas besiegen, das ihm sein eigenes Leben, wie es ihm vorkam, seit Ewigkeiten vergällte. Gift musste mit Gegengift bekämpft werden. Und dieses Gegengift sollte gefunden werden. Bier, Wodka, Schlaftabletten, MDMA, Kokain, Valium, Ketamin, Cannabis, Flunnis, GHB, Ecstasy, LSD. Und wenn es Crack sein musste. Ich will mein Leben zurück. Raus mit Dir!

Ras rieb sich die Augen und knetete sich mit den flachen Händen im Gesicht. Er hatte keine Ahnung, wie und wann er es geschafft hatte, zurück zu kommen. Zurück aus dem Club. Nur mit größter Mühe konnte er sich noch daran erinnern, wie er um halb eins im Nieselregen in einer langen Schlange gestanden hatte. Alle, nicht nur er, hatten gefroren und ihre reglosen Gesichter unter Kapuzen und hinter Schals versteckt. Ein hübscher Junge, blond mit einer dunklen Brille, hatte ihm zugelächelt. Von hier an verschwamm alles. Die anderen waren mit ihren Freunden, mit ihren Partnern dort gewesen, vertrieben sich die Wartezeit mit Reden. Alle waren aufgekratzt, aufgetakelt, zurechtgemacht gewesen, ganz so als erwarte sie im Club etwas Einmaliges, etwas, das die öden Tage in den Büros rechtfertigen konnte. Ein richtiges Leben im falschen Leben. Allein ging nur tanzen, wer ein Problem hatte. So wie er. Aber alle wollten sie nur Ablenkung. Und tatsächlich. Etwas musste dort drinnen wohl auch mit ihm geschehen sein. Etwas, das er heute, nur ein paar Stunden Schlaf später, so schön es gewesen sein mochte, nicht mehr vollständig greifen konnte. Es war nicht mehr als ein Nachgeschmack im Mund, noch weniger eigentlich: wie das Gefühl, wenn einen eben einer berührt hatte. Hatte sich das, was auch immer genau es gewesen sein mochte, denn wirklich dort drinnen im Club abgespielt? Dieses blumige Empfinden, das ihn in diesen Minuten schon wieder verließ, es wollte nicht dorthin passen. Ras kniff die Augen zusammen, in der Hoffnung, dass sich vor seinem inneren Auge etwas zusammensetzen würde. Nicht einmal mehr an die Räumlichkeiten konnte er sich klar erinnern, obwohl er schon öfters dort gewesen war. War er heute Nacht überhaupt reingekommen, dann musste er es an einem der Türsteher vorbeigeschafft haben. Hatte es überhaupt einen gegeben? Blackout. Es musste doch. Er war sich nicht mehr sicher, doch ja, da gab es eine vage Erinnerung von einem aufgeschwemmten, fetten Gesicht mit Tätowierungen auf Stirn und Wangen. Ein Spinnennetz. Oder kam diese Erinnerung von woanders? War das nur eine gedankliche Verschiebung, die aus einer anderen Nacht herrührte? Er grübelte. Doch ja. Vermutlich hatte er irgendwann nach längerem Schlangestehen die Türkontrolle passiert an diesem Abend. Und er gehörte ja auch nicht zu denen, die man nicht hineinließ. Er war einfach nicht der Typ, den Türsteher mit gespieltem Bedauern wieder nach Hause schickten. Wie sollte es sonst gewesen sein?

Vielleicht würde es ihm wieder einfallen. Später. Doch jetzt gerade wollte er vor allem eines: Wasser. Sein Körper war ein ausgetrocknetes Flussbett in der Wüste. Die Sonne brannte und der Wind wehte Staub und Sand vorbei. Von irgendwo heulte ein Coyote. Ras’ Zunge schmeckte wie totes Tier und seine Kiefer klebten aufeinander. Er ging in sein Badezimmer, beugte sich über das Waschbecken, wandte sein Gesicht nach oben und trank aus dem Wasserhahn. Die flüssige Kälte schmerzte an seinen Zähnen.



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[ Editiert von Takashi Bohemea am 11.03.11 16:03 ]

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