Eine junge Frau stand auf der Kaimauer und weinte. In der Hand hielt sie eine Kette mit einem herzförmigen Silberanhänger. Diese Kette hatte ihr Geliebter ihr vor drei Jahren gegeben, mit dem Versprechen bald zurückzukehren. Doch das würde er nun nie tun.
Sie wurde als Tochter eines reichen Bankiers geboren. Mit 13 Jahren zog sie mit ihrer Familie nach Hamburg, sie verliebte sich sofort in die Stadt. Jeden Abend schlich sie sich aus dem Haus, um am nächtlichen Hafen spazieren zu gehen. Sie liebte die Elbe, die bei Nacht soviel ruhiger war als am Tag. Mit 16 Jahren bekam sie mit, wie ihr Vater mit ihrer Mutter sprach. Sie redeten darüber, dass sie nun im heiratsfähigen Alter sei und ein guter Ehemann her müsste. Von nun an musste sie auf alle möglichen Bälle, Bankette und Veranstaltungen. Jedes Mal stellte ihr Vater ihr neue, langweilige Männer vor. Sie tanzte mit ihnen und versuchte sie danach so schnell wie möglich loszuwerden. Eines Abends war sie auf einer Veranstaltung, auf der sich nicht nur Menschen der oberen Schicht aufhielten. Ihr Vater stellte ihr wieder Männer vor, sie langweilte sich. Während sie ihre Fingernägel betrachtete trat wieder ein Mann vor sie. Sie schaute ihn gar nicht erst an, sondern reichte ihm einfach ihre Hand zum Tanze. Doch die Hand war nicht weich und geschmeidig, wie die der feinen Männer, sondern rau und sonnengebräunt, wie die eines Arbeiters. Als sie aufsah, schaute sie in das Gesicht eines etwa 20 jährigen Mannes. Er lächelte sie an, wobei seine grünen Augen funkelten. Sie tanzten den ganzen Abend miteinander und sie lachte soviel, wie schon lange nicht mehr. Als der Abend zu Ende ging, verabschiedete der junge Mann sich mit einem galanten Handkuss von ihr. Sie konnte den ganzen Abend nur noch an ihn denken. Am nächsten Abend saß die junge Frau in ihrem Zimmer, von dem aus sie zuschaute, wie ein großes Schiff den Hafen verlies. Plötzlich hörte sie etwas an ihrem Fenster. Als sie hinging, sah sie den jungen Mann vom Vorabend unter ihrem Fenster stehen. Sofort schlich sie sich aus dem Haus. Er nahm sie mit auf die andere Elbseite. Hier war sie noch nie gewesen und war dem entsprechend auch noch nie durch den vor zwei Jahren eröffneten Elbtunnel gegangen. Sie war beeindruckt. Auf der anderen Elbseite angekommen, sah sie sich um. Das hier waren die Fabrikviertel und es sah unheimlich aus. Doch der junge Mann nahm sie mit zu einer Kaimauer, von der aus sie den Hafen sehen konnte. Sie saßen den ganzen Abend zusammen und redeten. Von nun an trafen sie sich regelmäßig, verliebten sich ineinander. Auch der Vater der jungen Frau wusste von den Treffen, war jedoch nicht sehr begeistert. Der junge Mann war ein Arbeiter und hatte nur wenig Geld. Trotzdem trafen sie sich, versprachen sich die Ehe. Doch als der junge Mann bei ihrem Vater um ihre Hand anhielte, verweigerte der ihm diese. Der junge Mann mochte ein anständiger Kerl sein, doch er hatte keinerlei Geld, um eine Familie zu ernähren. Der junge Mann dachte lange nach. Er fasste den Entschluss, auf einem Schiff anzuheuern, um dort genug Geld zu verdienen. Als er dies seiner Geliebten mitteilte, wollte diese ihn davon abhalten. Doch er ging trotzdem und versprach ihr, bald wiederzukommen. Zum Abschied schenkte er ihr die Kette, dann war er fort.
Heute fing das vierte Jahr ihrer Trennung an und mit diesem traurigen Jubiläum kam ein Telegramm. Sein Schiff war gesunken und mit ihm alle Menschen an Bord. Die junge Frau weinte um ihn, sie sah keine Hoffnung mehr in ihrem Leben. Sie war zu dieser Kaimauer gekommen, zu der er sie einst mitgenommen hatte, um von ihrer Stadt Abschied zu nehmen. Sie warf die Kette ins Wasser und ging. Am nächsten Morgen fand ihr Vater sie tot in ihrem Bett, neben ihr das Telegramm mit der Todesnachricht. Sie hatte ein Mittel genommen, durch welches sie friedlich eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht war.
Etwa 100 Jahre später wird die Kette an den Strand gespült. Sie hatte sich an einem Stein verhakt und ist erst jetzt losgekommen. Ein junges Mädchen, welches gerade erst nach Hamburg gezogen ist, geht am Elbstrand spazieren. Sie sieht die Kette im Sand, nimmt sie mit nach Hause, reinigt sie und trägt sie fortan jeden Tag.