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  • Thema von Mirko Stauch im Forum Texte aller Art, Gedic...

    Die Unterführung
    Von Mirko Stauch

    Die Stadtverwaltung weiß Bescheid. Sie muß es wissen, denn warum sonst wurde die Unterführung vor unserem Hauptbahnhof geschlossen? Es wurden nicht einfach nur die Rolltoren geschlossen und versiegelt, man hat die vier Eingänge zugemauert und die Treppen mit Beton zubetoniert, schwere Platten draufgelegt und jede Erinnerung abgetragen. Ein Fremder wird nichts mehr sehen.
    Und ich bin sicher, sie wußten, was sie tun. Woher auch immer soll mir egal sein, obwohl ich es lieber wüßte. Ich glaube kaum, daß die Bürger wissen, was unter ihren Füßen haust. Wir alle werden von der Verwaltung betrogen und im Unwissen gelassen.
    Für mich ist der sicherste Platz in der Stadt der sogenannte Raddampfer, das höchste Wohnhaus mit seinen 23 Etagen. Ich habe mich dort eingemietet, in der 23. Etage. Die Wohnung klein, hellhörig, liegt am äußersten Rand, soweit wie möglich vom Erdboden entfernt. Der Umzug war mit Umständen verbunden, Scherereien und wie lange ich gebraucht habe, um meine Habe dort hinauf zu räumen. Man fragt sich, warum ich nicht in eine andere Stadt gezogen bin? Weil ich weiß, daß in anderen Städten das gleiche unter dem Erdboden lauert, wie ich es gesehen habe. Es kümmert mich nicht, wie andere Städte damit fertig werden; ich will nur überleben und denke nicht mehr daran, andere zu warnen. Natürlich habe ich damals die Polizei gerufen und mich an die Verwaltung gewandt. Und natürlich hat man mich nicht für voll genommen. Ich kann es verstehen. Oder sie haben meine Warnungen nicht ignoriert und erkannt, daß sie es nicht mehr zurückhalten können und deswegen die Unterführung zugeschüttet. Man hat mich für verrückt erklären wollen, drohte mir auch mit Verhaftung und Einweisung. Und das, weil sie es wußten. Man wird das durch diese Maßnahme nicht zurückhalten können. Andere Wege werden sich dem öffnen, denn es geht mit Intelligenz vor und mit bösartiger Zielstrebigkeit.
    Ich meide Keller, Tiefgaragen und jeden Ort, der sich unter der Erde findet. Es gibt in dieser Stadt keine U-Bahn und ich hoffe, daß es so bleibt. Soweit es mir möglich ist, lebe ich mein Leben weiter, komme einer geregelten Arbeit nach. Da mich mein Weg zur Arbeit zwingt, die Bahn zu benutzen, die in Düsseldorf unterirdisch weitergeführt wird, steige ich vier Haltestellen vorher aus und gehe den Rest zu Fuß. Durch Quellen, über die ich nicht näher bezeichnen werde, habe ich mir eine Schußwaffe besorgt, die ich immer bei mir trage. Ob ich damit im Ernstfall etwas ausrichten kann, weiß ich nicht, aber die angenehme Schwere der Waffe verleiht mir ein beruhigendes Gefühl.
    Doch ich beobachte meine Umgebung genau, verfolge aufmerksam die Nachrichten und die studiere die Tageszeitungen, immer darauf bedacht, Meldungen zu entdecken, die mit dem Ereignis in Zusammenhang stehen können. Eingestürzte U-Bahnschächte, rätselhafte Vorgänge auf Friedhöfen, unerklärliche Geschehnisse in den Tiefgaragen und Basements der großen Kaufhäuser, etwas, das in der Kanalisation passiert ist, irgend etwas, das sich zugetragen hat und unter der Erde passiert ist. Neulich habe ich einen Artikel gefunden. Zwei Arbeiter der Stadtwerke, die in einem Kanal arbeiteten, mitten auf einem der Wälle im Stadtzentrum, wurden von etwas in die Kanalisation gezogen. Jedenfalls glaube ich, daß es so war, auch wenn die Zeitung das etwas harmloser ausdrückte. Man sprach dort von einem eingebrochenen Rohr, das einen Hohlraum unter der eigentlichen städtischen Kanalisation freigab. Unsere Stadt hat ein unterirdisches System von Gängen wie den Bunker in der Nähe des Rathauses, der noch aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs stammt. Durch Zufall hat man ihn bei Grabungsarbeiten wiedergefunden. Durch Zufall. Als ob die Verwaltung einen Bunker einfach vergessen würde. Schnell wurde der Bunker wieder zugeschüttet. Ein kurzer Zeitungsbericht und das war es mit dem Bunker, ohne daß jemand Fragen gestellt hat. Man hat das alles einfach übergangen. Seit einiger Zeit weiß ich auch, warum.

    Es war im Herbst. Im Museum gab es eine Ausstellung von Bildern eines amerikanischen Künstlers, der Ende der 20er Jahre in Boston seine Schaffenszeit hatte. Er hinterließ ein grotesk grausames und in vielen Darstellungen derart explizites Werk, daß man die Veranstaltung für Jugendliche sperren mußte und die konservativen Bildungsbürger liefen Sturm. Das alles interessierte mich. Ich nutzte eine späte Führung durch die Ausstellung, gegen 23 Uhr verließ ich das Museum und ging zum Hauptbahnhof, um dort die vorletzte Straßenbahn zu erreichen. Ich war noch völlig benommen und stand unter dem Eindruck der Grausamkeiten, die auf den Bildern zu sehen waren. Wie in Trance suchte ich mir meinen Weg und dabei vergaß ich die Zeit. Natürlich war mir bekannt, daß man die Unterführung um 23.30 schließen würde, aber ich mußte meinen Geist ablenken, mußte mich wieder beruhigen und die Bilder aus meinem Geist verdrängen.
    In der Unterführung gab es noch zwei Geschäfte. Vor ein paar Jahren noch waren dort noch ein Schnellimbiß, eine kleine Boutique und ein Taschenbuchladen, aber nach und nach wurden die Umsätze schlechter und es wurde oft eingebrochen und Sachbeschädigung verübt. Um dem Herr zu werden, wurde die Unterführung nachts geschlossen. Das hielt aber niemanden davon ab, die Unterführung zu verwüsten und als Urinal zu benutzen. Die Graffitis wurden mehr und sogar gelegentliche Überfälle nahmen zu. Aber nicht nur normaler Diebstahl und Schlägereien fanden dort statt, sondern gewisse Angriffe, für die man keine Erklärung fand. Immer wieder wurden Menschen in der Nähe des Wartungsraums angegriffen. Der Wartungsraum lag am zweiten Nordeingang hinter einer roten Tür. Dort kam es zu Übergriffen, die keinen kapitalen Hintergrund hatten, sondern nur Ausbruch reiner Gewalt waren. Man hat dort zwar Kameras installiert, aber die Überfälle nahmen kein Ende. Auf den Überwachungsvideos konnte man jedoch nie etwas Verdächtiges ausmachen.
    Damals hielten sich nur noch ein Tabak- und Zeitschriftenladen und der Schnellimbiß. Die Unterführung maß etwa 100 Meter und hatte vier Ausgänge. Symmetrisch verteilten sich tragende Säulen im Raum und genau in der Mitte befand sich ein im Durchmesser 10m großes Achteck. Dort befand sich der Tabakladen. Der Imbiß am westlichen Ende.
    Die letzte Bahn war weg und ich beschloß zur Beruhigung meiner Nerven eine kleine Flasche Cognac am Bahnhofskiosk zu kaufen. Ich trank ein wenig und das Brennen gab mir ein wenig Realität zurück. Schnell nahm ich die Stufen abwärts und lief am Kiosk vorbei. Dort sah ich mir die Auslage an und dann hörte ich ein quietschendes und schleifendes Geräusch. Die schweren Rolltore wurden herabgelassen, an allen vier Ausgängen gleichzeitig. Zu meiner Bestürzung geschah das sehr schnell. Erschrocken sah ich mich um, versuchte den nächstliegenden Ausgang zu bestimmen, war aber unschlüssig und verwirrt. Die abscheuliche Ausstellung, meine Verwirrung und der Alkohol ergaben eine schlechte Mischung. Ich wußte nicht, wohin und so sah ich die Rolltore herabrasseln und gewahrte das harsche Klicken, mit dem sie einrasteten und verschlossen wurden. Verärgert über meine Unfähigkeit, überwand ich meine kurze Paralyse und rannte auf eines der Tore zu, hämmerte mit den Fäusten dagegen und rief laut um Hilfe. Natürlich geschah nichts. Dann rannte ich in Richtung des Wartungsraums, denn dort waren die Kameras. Warum hatte man nicht jedes Tor unter Bewachung gestellt? Warum hat man nur diesen Eingang mit Kameras....
    Das Rolltor war zu. In Panik trommelte ich mit den Fäusten dagegen, stellte mich vor die Kameras und winkte, rief, brüllte und führte einen Tanz auf. Die Kameras blickten stur auf mich herab, unter ihren Objektiven zwinkerten mir die roten Leuchtdioden teilnahmslos zu. Minutenlang hatte ich gegen das Rolltor geschlagen, getreten und hatte gebrüllt, geschrien und mich in Panik vor dem Kameras bewegt. Nichts. Auch die rote Feuerschutztür des kleinen Wartungsraums habe ich mit einem Trommelfeuer von Faustschlägen überzogen, habe an der Klinke gerüttelt, nichts. Erschöpft und außer Atem lehnte ich an der Wand und versuchte meine Gedanken gegen das Rauschen in meinen Ohren wieder für mich hörbar zu machen. Wie konnte ich mich bemerkbar machen? Es gab hier unten keine Feuermelder, keine Notrufsäule, keine öffentlichen Telefone, denn wegen der anhaltenden Verwahrlosung des Ortes und der ständigen Sachbeschädigungen hatten man alles demontiert. Ein Schild für den Notausgang sah ich nirgends. Es war schlicht nicht vorgesehen, daß man einen Notausgang benutzen mußte.
    Ich lief die Tore ab und versuchte an jedem, etwas zu hören, hämmerte wieder gegen das Metall und hoffte auf eine Reaktion. Es war nicht vorstellbar, daß man die Tore automatisch herabließe. So was wurde von Hand gemacht. Doch diese Aktion brachte nichts. Ich mußte mich damit abfinden, ein Gefangener zu sein. Ich ging in die Mitte des Raums und setzte mich auf den Boden, an das Schaufenster des kleinen Tabakladens gelehnt. Die Hoffnung, daß ein Nachtwächter oder ähnliches hier vorbei kommen würde, um einen Kontrollgang zu machen, hatte ich nicht. Daß man hier unten keinen Notruf installiert hatte, versetzte mich sogar in Zorn. Im Geiste formulierte ich schon eine Reihe von Beschwerdebriefen und einen Leserbrief an die hiesige Tagespresse. Diesen Zustand empfand ich als skandalös und lebensgefährlich.
    Eine Zeit lang schaukelte ich mich an der Vorbereitung dieser Attacken gegen die Verwaltung hoch, dann aber kam mir die Idee, den Laden zu untersuchen. Es gab dort mit Sicherheit ein Telefon. Dafür hätte ich einbrechen müssen und dieser Gedanke war mir unangenehm. Die Tür war selbstverständlich verschlossen und mit einem Sicherheitsschloß gesichert. Nun gab es die Möglichkeit, die Scheiben zu zertrümmern, aber das wollte ich mir als ultima ratio vorbehalten. Noch war die Situation nicht so abgerutscht, noch wollte ich nicht zum Einbrecher werden und die Scherereien auf mich nehmen müssen. Aber ich behielt diese letzte Möglichkeit.
    Wann fuhren die ersten Züge? Gegen vier. Schnell suchte ich das Schild mit den Ladenöffnungszeiten: 6.30 Uhr an den Werktagen. Vorher mußte der Laden beliefert werden, vielleicht gegen 6.00 Uhr. Mit Glück wurde die Unterführung schon früher geöffnet, mit viel Glück schon so früh, daß man die ersten Züge erreichen konnte, wenn man durch die Unterführung ging. Meine Uhr zeigte 23.55. Mit Glück also etwa vier Stunden warten, dann einige Erklärungen abgeben, vielleicht auch nicht, wenn mich niemand sähe. Wieder blickte ich auf meine Uhr: 23.55. Der Sekundenzeiger bewegte sich nicht. Mit einem leichten Schock stellte ich fest, daß meine Uhr defekt war. Offenbar hatte sie während des Schlagens gegen die Rolltore Schaden genommen und war stehengeblieben. Also bestand keine Möglichkeit mehr, die Wartezeit mit beruhigender Mechanik zu verfolgen. Das reine Warten. Mit der Hoffnung, an die ich nicht recht glaubte, richtete ich mich auf dieses Warten ein. Die Zeit konnte ich also nicht mehr messen, aber einige Aktivitäten wollte ich mir ausdenken, damit mich die Langeweile nicht zermürbte. Außerdem hatte ich noch den Austellungskatalog bei mir, den ich studieren konnte. In Wartezimmern pflegte ich immer die unmöglichsten Dinge zu zählen. Ich zählte Lamellen der Rollos, die Zeitschriften, die Stuhlbeine, die Fliesen, alles. Und das nur, wenn ich mich nicht auf ein Buch oder eine Zeitschrift konzentrieren konnte. Also fing ich an, die Säulen zu zählen, 18. Dann die Neonröhren an der Decke 125 funktionierende und 23 kaputte, zwei fehlten. Als ich schließlich anfing, die Quadrate zu zählen, welche die Decke aufteilten, durchfuhr mich ein Schreck. Die Neonröhren wurden dunkel. Reihe für Reihe setzte das Licht mit einem leichten Knall aus. Die Dunkelheit kam auf mich zu, Reihe für Reihe, bis sie sich dann über mich ergoß und gegen die hinter mir liegende Wand brandete. Es war stockdunkel. Kein Licht mehr. Nicht vom Schnellimbiß gegenüber, nicht aus dem Tabakladen. Seit ich hier war, mußte etwa eine halbe Stunde vergangen sein oder mehr. Warum ging das Licht erst jetzt aus? Ich machte mir keine Hoffnungen auf einen einsamen Techniker, der irgendwo saß und das Licht manuell ausgeschaltet hatte, mit Sicherheit wurde das Licht per Zeitschaltuhr gesteuert. Warum aber zu nach verhältnismäßig so langer Zeit? Absichtliche Stromverschwendung.
    Trotz der jetzt noch schlechteren Situation, nahm ich alles gelassen hin. Verschlechtern konnte sich nun nichts mehr. Ich wunderte mich über meine Ruhe und über die Abgeklärtheit, mit der ich die Ironie der Situation betrachtete. Es wurde kühl, aber es blieb still. Keine Geräusche, die man hier unten erwarten würde, nichts, das über den Boden huschte, kein Knacken und auch kein Sirren von irgendwelchen Aggregaten, kein verschwommener Lichtpunkt zeichnete sich ab, keine geheimnisvolle Leuchtquelle, nur vollkommene Stille und Dunkelheit. Und das Geräusch meines eigenen Atems und das Rauschen meines Blutes im Kopf. Gelegentlich hörte ich das dumpfe Grollen eines Autos.
    Was macht man Stunden in der Dunkelheit? Eingesperrt in einem großen Raum. Sich mit der Situation abfinden und alles tun, nicht in Panik zu geraten. Mit einer Erkältung konnte ich ohnehin rechnen, also setzte ich mich auf den Boden, zog meinen Mantel enger um mich und schloß die Augen, versuchte, eine meditative Haltung einzunehmen und mich ganz auf meinen Atem zu konzentrieren. Doch meine Gedanken schweiften ab, meine Konzentration ließ nach, schließlich nickte ich ein.
    Als ich aufschrak, wußte ich nicht, wieviel Zeit vergangen war. Einen kurzen Moment durchjagte mich Panik, da ich mich in einem Traum gefangen glaubte. Mit tiefen Atemzügen kam die Orientierung zurück. Etwas hatte mich aufgeschreckt. Mit geringer Hoffnung versuchte ich die Richtung auszumachen, in der die Rolltore liegen mußten, konnte von dort aber nichts hören. Aber ein Geräusch nahm ich wahr. Dort war etwas. Zu leise für einen Menschen und viel zu leise für ein Rolltor. Was ich hörte glich einem Wispern, einem leisen Berühren des Bodens wie von einem kleinen Tier. Ratten. Mein erster Gedanke. Es mußten Ratten sein. Was sonst konnte sich hier unten noch befinden? Mit Abscheu zog ich meinen Mantel enger um mich. Jetzt nur nicht wieder einschlafen. Diese Nagetiere könnten das als Einladung empfinden. In meinen Taschen suchte ich nach etwas, das ich zur Abwehr gegen diese Viecher benutzen konnte. In meiner leisen Verzweiflung versuchte ich, den Ausstellungskatalog zusammenzurollen, um mich mit diesem improvisierten Prügel verteidigen zu können. Ich schlug mit meiner Waffe auf den Boden und dann hörte ich eine Weile nichts mehr. Hatte ich die Biester vielleicht vertrieben?
    Dann riß mich der nächste Schreck mit Gewalt zurück ins Wache. Ein Knirschen und Quietschen. Das waren nicht die Rolltore, sondern eine schwere Tür. Wieder versuchte ich, die Quelle des Geräuschs auszumachen, es schien von allen Seiten her zu kommen. Wie spät war es? Hoffnung. Da könnte ein Mensch eine Tür geöffnet haben. Laut rief ich etwas in die Dunkelheit hinein. Keine Antwort. Ich wiederholte mein Rufen. Absolute Stille. In solchen Situationen neigt man dazu, seinen angespannten Sinnen alle möglichen Gemeinheiten zu unterstellen, aber ich war vollkommen klar, allein die Panik stieg in mir hoch. Unter völliger Anspannung horchte ich in die Dunkelheit hinein, doch das Pochen meinem Schädel hätte jedes Geräusch überlagert. Seltsam genug, daß ich mich wieder mit der Situation abfand. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis mich endlich der Alltag aus dieser Situation befreien würde. Meine Waffe fester umfassend, schloß ich die Augen - hatte ich sie überhaupt geöffnet? - und konzentrierte mich wieder auf meinen Atem. Ruhe bewahren. Da war nichts.
    Und wieder muß ich eingenickt sein. Schwer vorstellbar dort unten, eingesperrt in der Schwärze. Doch diesmal war es ein Geräusch. Und diesmal kam es wirklich von allen Seiten, nein, es waren mehrere Geräuschquellen. Ein Flüstern. Nur daß dieses Flüstern nicht von Menschen stammen konnte, denn es klang gepreßt und wurde begleitet von einem schleifenden Geräusch, das von der einen Seite näher kam, sich auf der anderen Seite entfernte. Wieder die Ratten? Ich verstehe nichts von Nagetieren, wußte aber, daß dieses Geräusch von etwas stammen mußte, daß deutlich schwerer als eine Ratte war. Hunde oder Katzen? Aber das eigenartige Flüstern widersprach dieser Theorie. Vollkommen konzentriert bewachte ich meine Umgebung. Mit meinen Fingern tastete ich vorsichtig meine Augen ab, um sicher zu sein, daß ich sie auch geöffnet hatte. Über dieses Verhalten konnte ich nur kurz lächeln. Irgendwelche streunenden Tiere hielten sich hier unten auf und ich verhielt mich wie ein Verrückter. Ich bin Rationalist und weiß, daß es für jedes Phänomen eine vollkommen natürliche Ursache gab. Um diese Tiere von mir fernzuhalten, schlug ich wieder mehrere Male mit dem zusammengerollten Katalog auf den Boden und die Geräusche erstarben. Doch dann rutschte etwas Großes über den Boden, genau auf mich zu und nun zerriß mich die Angst. Ein Keuchen und Flüstern näherte sich mit einer ekelhaften schleifenden Bewegung. Kurz hielt es inne, dann kroch es weiter auf mich zu. Mit meiner Waffe schlug ich wild um mich, hämmert panisch auf den Boden und hörte nichts mehr. Dafür nahm ich einen durchdringenden Geruch auf, der wie Ammoniak meine Nasenschleimhäute verätze, dann ein leises Atmen. Vor mir war etwas. Ich zog mich zusammen, versuchte, mich nicht zu bewegen. Falls es ein Tier war, dann wollte ich es nicht weiter auf mich aufmerksam machen. Ich konnte seine Gegenwart spüren, als würde sich die Dunkelheit seines Körpers von der mich umgebenden Schwärze abheben. Meine Sinne täuschten mich nicht. Es kann nicht sein. Dort vor mir, keine zwei Meter entfernt kauerte etwas Großes, das dunkler war als die Dunkelheit. Und es schob sich näher. Ein Flüstern ging von der Kreatur aus, wurde von allen Seiten mit Geräuschen beantwortet. Umzingelt von etwas nicht näher Bestimmbaren. Ich schrie um Hilfe. Rollte mich zur Seite und berührte etwas Warmes. Was auch immer ich berührt hatte, zuckte zurück und wich mit einem grollenden Geräusch. In Panik versuchte ich mich aufzurichten, aber meine Beine waren wie gelähmt. Der Geruch wurde stärker, kam näher, ein rasselnder Atem wurde ausgestoßen und dann kroch etwas schwer über meine ausgestreckten Beine. Wie von Sinnen schlug ich um mich, schrie und meine Stimme überschlug sich, doch konnte ich meinen Körper aufrichten und dann rannte ich los, prallte gegen einen Pfeiler und spürte Blut aus einer Wunde am Kopf über mein Gesicht rinnen. Dann sah ich die mich umgebende Schwärze angefüllt von tiefschwarzen, sich in alle Richtungen bewegenden Brocken. Ich sah, wie die Schwärze sich bewegte, betete um Ohnmacht, betete, daß es schnell gehen möge, denn für mich bestand kein Zweifel mehr: Tod.
    Durch das tobende Schwarz gellte ein Geräusch, viel mehr: ein Ruf. Nie werde ich vergessen können, was ich hörte. Die mich vor einigen Augenblicken noch fixierende keuchende Masse stieß diesen Ruf aus. Es war kein Tiergeräusch: Jaktar ikelli. Jaktar ikelli. Zumindest phonetisch scheint dies eine treffliche Wiedergabe zu sein. Jaktar ikelli. Immer wieder. Von allen Seiten her schnaufte, schabte und keuchte es, als wollten die schwarzen Dinger antworten. Mit hastigen Bewegungen zogen sie sich zurück. In der Mitte blieb die massige Gestalt. Dann kroch auch sie langsam zurück, ihre Geräusche entfernten sich langsam. Ohne Vorwarnung sprangen die Lichter an und die Rolltore begannen zu quietschen. Mit einem Schlag fand ich die Richtung und sah noch die offene Tür des Wartungsraums. Etwas verschwand dort. Meine Neugier besiegte meine Panik, da ich, im Licht, mich im Vorteil glaubte und so rannte ich zu der Tür. Was auch immer es war, es ließ die Tür geöffnet. Mit allem Mut rannte ich zur Tür und durch einen schmalen Gang, der in einem roh behauenen Tunnel mündete. Etwa 10 Meter entfernt sah ich noch einen schwarzen massigen Körper in ein Loch gleiten. Dann besiegte mich wieder die Angst und ich floh durch den Ausgang neben dem Wartungsraum nach oben. Ich weiß noch, daß ich tief die Morgenluft einatmete, kurz stehenblieb und mich umsah. Dann nach Hause.
    Mein Erlebnis erscheint wie eine Ausgeburt der Phantasie, ein Gewitter überspannter Nerven, der klaustrophobischen Situation geschuldet, doch es ist alles wahr. Ich habe die Kratzspuren an meinem Bein als Beweis. Aus meiner Kleidung ist der Geruch nicht mehr zu entfernen. Ich bewahre sie in einem Beutel auf, als eindeutiges Zeichen.
    Die Warnungen blieben unbeachtet. Aber ich weiß, daß es dort unter uns, unter den Städten, eine Existenz gibt. Eine intelligente Lebensform. Seither habe ich mich kaum noch unter die Erde begeben.

  • Thema von Mirko Stauch im Forum Texte aller Art, Gedic...

    Gewinner sein

    von Mirko Stauch

    Nenn mich einen Verlierer. Geht klar, Kumpel, kein Problem, geschenkt. Sieh dir mal die Gewinner an. Die einen Gewinner sind große Nummern. Volles Konto, totsicherer Job, großes Auto und all das übliche Zeug. Davon gibt es nur wenige.
    Von diesen wenigen kenne ich tatsächlich drei oder vier und einer von denen ganz besonders.
    Aber seit zwei Jahren ist er hinter der Frau her, mit der ich zusammen bin. er hat sie verlassen und als er merkte, daß alle anderen ihn nur verarschen, wollte er zurück. Zu spät, Bruder.
    Um mir eins reinzuwürgen, nennt er mich jetzt, ganz cool: Looser. das
    ist okay für mich, denn ich bin mit seiner Traumfrau zusammen.
    Es gibt die smarten Gewinner, in ihren Anzügen, die sie sich im Supermarkt
    gekauft haben, damit sie überhaupt einen Anzug haben, der wie ein teurer
    aussieht, damit sie einfach was her machen. Ich kenne ihre billigen Anzüge,
    die teuer aussehen. Ich habe selbst zwei davon. Wenn du schwitzt, dann geht der Geruch nicht mehr raus aus dem billigen Zeug. Meine Anzüge trage ich nicht mehr, manchmal die Jacken noch, aber die sind abgewetzt, ein bißchen dreckig und eine ist mir zu eng. Ich werde langsam fett, vielleicht weil ich ein Verlierer bin.
    Die drahtigen Gewinner tragen ihre billigen Anzüge. Ich kann sie riechen, denn
    sie schwitzen vor Angst. Ihre Anzüge stinken nach kaltem Schweiß. Sie haben Angst, daß der Chef oder ihre Freunde erkennen, wo sie ihre Anzüge her haben und daß sie billig sind. Die Gewinner, mit ihren Haarschnitten, die sie für teuer und modern halten, sind nur kleine Kreaturen in billigen Anzügen am Anfang der Nahrungskette. Sie kaufen sich Uhren, die aussehen, als wären sie teuer.
    Benutzen Imitationen : Parfum, Shirts, Zeugs. Auf dem Trödelmarkt oder in der Türkei kannst du das alles kaufen. Sieht aus wie echt. Als so ein Linkmichel meinen Vater damit übers Ohr hauen wollte, brüllte ich ihn an, warf ihm eine Bierdose vor die Füße und drohte ihm eine Tracht Prügel an. Nicht mit uns, Kumpel.
    Aber die Gewinner drohen nicht, sie prügeln sich nicht, sie atmen nur ganz
    flach. Flacher als ich mit meinen 23 Zigaretten am Tag, die ich schon für heftig halte. Aber lachhaft, andere rauchen mehr. Die Gewinner, sie wissen alles, vor allem, wo man das billige Zeug kauft, das aussieht wie teuer. Ich muß mal einen von denen fragen.
    Sie sind nicht smart genug, um in diesem Haifischbecken oben zu schwimmen. Sie wollen es sein, sehen sich Filme an, in denen es harte Typen gibt, die immer den richtigen Spruch parat haben, wenn ihnen einer krumm kommt. Sie wollen harte Typen sein. Aber die wirklich harten Typen, die mit den teueren Anzügen, werden sie übel zusammendrücken, wenn sie wieder schwitzend vor ihnen stehen und dann gefragt werden, warum stinkt es hier nach Schweiß?
    Arme Kerle. Sie tun mir leid, obwohl sie mich immer von oben herab behandeln und mich scheel anschauen, weil ich meine Hemden über der Hose trage und immer etwas müde aussehe. Dann klimpern sie mit den Wagenschlüsseln in der einen Hand, halten ihr Handy in der anderen und hoffen, daß endlich jemand anruft, damit sie ihre Freisprechkabel zeigen dürfen. Als ich den ersten Krampfkopf mit so einem Ding durch die Straßen laufen sah, immer in dieses kleine Kabel reinredend, habe ich mich gewundert. Ich dachte wirklich, er rede mit sich selbst. Hat lange gedauert, bis ich’s endlich kapiert habe. Knopf im Ohr und dann warten sie auf einen Anruf.

    Da gibt es noch die Gewinner, die dir eins erzählen wollen. Die kennst du auch. Die sind immer so strapazierend sozial und engagiert, daß es für drei oder mehr reicht. Verdammt politisch korrekt.
    Sagen wir, du arbeitest in einem Laden, Papierwaren, Bücher oder sowas. Sie kommen rein und finden die verdammte Kasse nicht, weil sie einen Computerbildschirm nicht von einer Kasse unterscheiden können. Laß diese Typen einfach stehen, geh zur Kasse und sieh dir ihre dummen Gesichter an. Dann warte einfach und irgendwann kommt die Frage, ob das hier die Kasse sei. Und kurz darauf wirst du wieder gefragt, wie seit zehn Jahren zweimal die Woche, ob du der Sohn des Chefs bist. Ich jedenfalls sage mittlerweile nur noch, daß ich der Sohn bin, ohne näher zu sagen, wessen Sohn. Dann ist Ruhe.

    Wie lange soll man das durchhalten. Denn zu den ganzen Gewinnern kommen noch mehr. Da gibt es auch die besonders Schlauen, die das Geräusch der Türglocke nachmachen, wenn sie in den Laden kommen. Jedesmal dröhnt einer von diesen Fischen: ding-dong. Das ist besonders geistreich, finden sie wahrscheinlich. Diese Hohlköpfe in ihren bunten Jacken und mit ihren
    Altenpflegerkurzhaarfrisuren haben es drauf. Sie sind furchtbar engagiert und
    helfen jedem über die Straße, ob derjenige das will oder nicht, notfalls mit
    Gewalt. Das sind Gewinner. Ich habe diese Spinner schon auf dem Gymnasium nicht ausstehen können. Bei allen Diskussionen dabei. Einer von diesen Typen wurde schließlich Kabarettist. Es gibt sogar Leute, wie man mir
    gesagt hat, die über ihn lachen sollen. Ich fand ihn nie lustig. Als ich einmal
    betrunken war, habe ich mir sein Zeug im Fernsehen gesehen. Immer noch politisch korrekt und immer noch ökologisch abbaubar. Er schrieb auch damals nette Kurzgeschichten. An eine kann ich mich vage erinnern. Irgendwas mit Buchstaben, die in eine Kneipe gehen und alle irgendwie modisch und hip waren, bis Null reinkam und keiner wollte was mit Null zu tun haben, weil Null so anders war. Null waren Typen wie ich, die einfach durch das Gymnasiumsraster fielen. Mir war es damals schon egal. Der einzige, der beim Abschlußball fehlte, war ich. Ich lag betrunken im Bett und hörte Jazz.
    Aber der Kerl war ein Gewinner. Vater Arzt und Menschenfreund. Sie luden sich sonntags immer die schwarzen Asylanten nach Hause ein, nach der Kirche, zum Essen. Was sollte das sein? Wollten sie den Schwarzen zeigen, wie gut man es hat und sich dabei ein Platz im Himmelreich sichern? Top, gewonnen. Das war vor ein paar Jahren richtige Mode. Man lud sich die Schwarzen ins Reihenhaus und aß mit ihnen, vorher durften sie das Tischgebet sprachen. Als dann die kleinen albernen Dorfnazis böse guckten, zogen alle Ärzte, Lehrer, Bioladenbestizer, Architekten, Künstler und was weiß ich für Leute die Schwänze ein und luden die Schwarzen wieder aus, ließen sie in ihrem Asylantenheim sitzen und spendeten stattdessen ein paar Kröten mehr an Weihnachten für Brot für die Welt. Nur die Anwälte hatten keine Angst vor den Dorfnazis. Die wissen schon, wie man einen rund macht.
    Jedenfalls sind diese Clowns immer noch aktiv und es ist kein Spaß und keine
    Erfindung von mir, daß die Eltern einfach einen bestimmten Betrag an die Schule spendeten und schon war das Abitur sicher. Dann kann man schon mal Kabarettist werden. Auch wenn ich ihn und seine kleine scheinheilige Truppe nicht lustig fand, in den politischen Diskussionen war er immer engagiert und mit abgeklärter Übermenschlichkeit dabei. Das fand ich schon sehr witzig. Am besten sind die Gewinner, die einen wie mich auch noch ernst nehmen.

    Da sitze ich also in meinem Stammcafé, zwischen all den anderen Gewinnern und sehe mir das an. Warum sitze ich immer noch in diesem Café der Gewinner?
    Ich bin nur noch hier, weil immer kurz nach mir Markus Brody kommt und alle verklagen würde, wenn sie mich rauswerfen, weil ich kein Gewinner bin.

    Gewinner sehen gut aus. Ihre Kleidung ist modisch, ihre Haarschnitte grenzen an Körperverletzung und sie sind jung. Zu jung. Sie werden bald schon zu den Gewinnern gehören, die schwitzen. Dann ist ihre Kleidung nicht mehr ganz so hip. Oder sie werden geborene Gewinner. Sie sind immer gut drauf.
    Nichts davon trifft auf mich zu. Ich schlage mich gerade so mit dem durch, was ich als Verkäufer verdiene und mit dem, was ich schreibe. Das reicht noch nicht mal für billige Anzüge, in denen man schlechter schwitzt. Ich habe das Gefühl, aus dem Schwitzen nicht mehr rauszukommen. Für den Rest meines Lebens, laut Statistik noch etwa 44 Jahre, werde ich schwitzen und ein paar Texte schreiben. Dann war's das. Dann habe ich endgültig verloren. Aber ans Verlieren habe ich mich gewöhnt. Ich bin kein Gewinner. Das müssen die kleinen Gewinner mir erstmal nachmachen.
    Neulich habe ich mal wieder mit Hank darüber gesprochen. Wie immer sagte er
    nichts dazu, sondern deutete nur auf sein leeres Glas. Ich bestellte uns zwei neue.

  • Thema von Mirko Stauch im Forum Texte aller Art, Gedic...

    Gekoppelt

    von Mirko Stauch

    Ich erwachte nach langen Träumen. Vielleicht waren es auch keine Träume. Fast stereotyp möchte ich mich Spekulationen hingeben.
    Ein Fisch oder ein Wurm von besonderer Kleinheit schwamm sichtbar durch eine große Ader in meinem Arm. Ich konnte ihn spüren, seine Bewegung in meiner Ader. An einer besonders dünnen Stelle schwamm er ganz dicht an die Membran der Ader. So konnte ich seine Augen sehen. Schwarze, lidlose Fischaugen, in denen es funkelte. Nachts, bevor ich einschlief, konnte ich seine leichten Schwimmbewegungen in meinem Körper hören. Manchmal tastete ich meinen Körper ab. Auf der Suche nach diesem Parasiten.
    Daß ich das andere aber nicht geträumt habe, verraten mir die Narben an meiner linken Seite, meinen Armen und meinem rechten Bein. An meinen Gliedmaßen waren die Schläuche. Ich war dort. Kein Traum. Ich habe den anderen in mir gespürt. Wie kaltes Wasser schoß sein Blut durch meine Adern. Ich konnte es fühlen, als es durch die Kanüle in meine Adern trat und von dort in meinen Körper kroch.
    Kalter Brand, ein schwereloses Beben in den Atemwegen, als die Betäubung in mich drang, sie kroch von meinem linken Arm wie ein Spinnenweb hinauf und schoß durch mich, bis es mein Bewußtsein auflöste. Die Spritze traf mich unvorbereitet, hatte ich doch mit der Maske gerechnet. Früher, als Kind, setzte man mir vor einer Operation eine Maske auf und ließ Äther einatmen, das Gefühl auflösender Schleimhäute, erweiterter Atemwege, das Würgen und schließlich nichts.

    Als ich wieder erwachte und den ersten Schwindel überwunden glaubte, dauerte es eine Zeit, bis ich wieder mir selbst deutlich machen konnte, was mit mir geschehen war. Ich lag auf diesem Bett, neben mir lag er, mit mir verbunden durch Schläuche. Ich spürte sein Blut in mir kriechen.
    Man verlangte von mir, die Notwendigkeit des Eingriffs zu verstehen. Eine Rettung, nicht nur für ihn, gesellschaftlich betrachtet von großer Bedeutung. Auch stellte jemand der Anwesenden mir, außer einer großzügigen Aufwandsentschädigung, eine Rente in Aussicht, sowie eine Zuwendung an meine Familie, sollte etwas nicht vorgesehenes eintreten.
    Ich sah mir die vorgelegten Zahlen an, folgte den Berechnungen und wurde von einem beruhigendem Gefühl überfallen. Für alles war, jedenfalls in finanzieller Hinsicht, gesorgt.

    Gern würde ich sagen, daß die Nächte schlimm oder unerträglich seien, aber ich kann es nicht. Die Nächte sind Ohnmacht. Man sedierte mich zu einer bestimmten Zeit des abends. Wohl kaum aus Rücksicht auf mich, damit ich nicht wach liege und meinen Kopf in bösen Rausch versetze. Ich möchte nachts denken, auch schlechte, drückende Gedanken, aber meine Unruhe würden den anderen stören. Um ihn nicht der Gefahr eines Ungleichgewichts irgendwelcher Stoffe aus meinem Körper auszuliefern, kontrollierte man meinen Körper. Die Tage waren durchzogen von Untersuchungen, Ruhephasen, Ernährung und Reinigung. Es ist unangenehm, die Toilette nicht benutzen zu können und sich ganz dem pflegenden Anwesenden hinzugeben. Fast wehrlos mußte ich die Reinigungen über mich ergehen lassen. Dabei aber verhielt man sich nicht grob oder
    mechanisch, eher behutsam. Das verstand ich als dem Schutz des anderen geschuldet, nicht meinem Wohlergehen, an dem man nur soweit Interesse zeigte, betraf es den Gesundheitszustand des an mich Gekoppelten.
    So verging die Zeit, die ich nicht mehr zählte. Eine Routine kehrte ein. Das kontrollierte Aufwachen, die Waschungen, die Untersuchungen, die Nahrung, das kontrollierte Einschlafen. Dazwischen überflutete man mich mit Reizen, die mich entspannen sollten. Von der Medizin verstehe ich nicht viel, ich konnte nur vermuten, daß man Streßhormone vermeiden wollte, die sich den Weg hinüber hätten bahnen können.

    Durch die Freundlichkeit und das Geld, ließ ich mich verführen. Es war unnötig. Das Geld brauchten wir nicht. Es ging alles gut, schuldenfrei und einen guten Lebensstil konnten wir pflegen. Ich begreife nicht, warum ich es tat. In den Minuten der Stille, die trotz aller Vorkehrungen und Ablenkungen von mir erzwungen werden konnten, dachte ich über das Zu spät nach. Sinnlos, alle Gelegenheiten aufzuzählen, bei denen ich zu spät kam, versagt hatte durch Zögern. Der Zweite zu sein war mir bestimmt. Kein Held zu sein. Vielleicht war es das und nicht das Geld, was mich zur Unterschrift trieb. Nicht der Zweite zu sein, der Erste, der diesen Mann rettet. Jeder zeichnete sich als den ersten und einzigen, versuchte alle zu übertrumpfen. Ich zog mit, machte dieses Wettspiel auch zu einem Teil meines Lebens. Schließlich erkannte ich, daß es Unsinn war und stieg aus, ordnete meine Verhältnisse, beschrieb den Kreis der Familie und sank herab in den Alltag, blieb Beobachter.
    Und doch wollte ich ein Held sein. Gegeben wurde mir die Gelegenheit dazu durch diesen Eingriff. Nur kurze Zeit, ein Leben retten, ausgesorgt - der Sorgen enthoben. Und ein Held. Was für eine Vorstellung. Ich bildete mir ein, daß schon nach der sachten Anfrage die Leute auf der Straße mich ansahen und meinen Namen nannten, mit dem Hauch der Bewunderung. Einbildung. Schnell unterschrieb ich die Erklärung, ohne sie genau durchzulesen und ohne mich näher mit Familie und Freunden zu besprechen.

    Der andere war sehr dick. Ich konnte ihn nur als Schatten in den Augenwinkeln ausmachen. An einen Fleischberg gekoppelt, den ich in stillen Momenten haßte. Und auch wieder nicht. War es denn eine Krankheit, die diese Maßnahme erzwang? Hatte ein Unfall alles verursacht? Oder war er auch nur Teil und nicht Nutznießer eines Experiments? Wer war er? Mich beschlich die Angst, daß er kein Mensch war, sondern ein Tier oder etwas anderes. Der schwere Leib, mit der Anstrengung eines Kopfaufrichtens, das sehr langsam war, weil mein Wille den Muskeln seinen Befehl zwar aufzwang, sie sich weigerten, gesperrt von einer Dosis unbekannter Substanzen. Ich zwang auch meine Augen an den Rand ihrer Höhlen, spürte dabei, wie sich hinter ihnen die Nerven wie Bänder spannten. Ich wollte den anderen sehen und fürchtete mich davor, es möge etwas, das die Augen im Kopf hielt, zerreißen.
    Sein Atmen drang zu mir. Regelmäßig, schwer schleppend, gelegentlich ein rasselndes Geräusch aus der beschleimten Lunge, manchmal sogar so lange und deutlich, daß sich in mir ein Hustenreiz aufbaute. Ich wollte den Schleim des anderen aus meinen Lungen husten, damit dieses Geräusch aufhörte. Durch eigene tiefe Lungenzüge hoffte ich, sein Sekret durch die Schläuche in meinen Körper zeihen zu können, damit es endlich weggehustet werden konnte, raus aus unserem Körper und weg von meinem Gehör. Mit der tumben Regelmäßigkeit einer kalt-schlauen Maschine atmete der andere und rhythmitisierte mein eigenes Atmen. Dagegen mußte ich mich wehren. Schon genug damit, daß sein Blut und wer weiß, was noch, sich in meinem Körper befand, aber nach seinem Atem wollte ich nicht atmen.

    Ob man es versäumt hatte, mich darüber zu informieren, wer der andere war oder ob es Absicht war, vermag ich nicht einzuschätzen. Es kam mir vor wie der Hauptgewinn eines Preisausschreibens. Man informierte mich, lockte mich und so lag ich dort. In diesem Raum. Im Halbdunkel. Angekoppelt.

    Aus dem traumlosen Schlaf riß mich eine grelle Vorstellung, die alle Schranken in meinem Geist überwand, die von Medikamenten empor gezogen wurden. Ich bin nicht mit ihm allein. Andere. Nicht die Pfleger oder die Ärzte, andere. Ich sah das Bild einer Blume, dann einer Nervenzelle, die mit anderen Nervenzellen verbunden ist, dann sah ich eine Stadt, um die sich peripherische Quartiere legten, verbunden durch schlauchartige Verkehrswege, eine Mutter, inmitten einer Schar Kinder, sie greift sie mit sechs Armen in wildem Tanz um sich fliegen lassend. Was, wenn ich nicht der einzige bin? Um diesen Körper herum andere. Diese anderen Körper und meiner erfüllen die Funktion der Organe? Wie viele Organe kann man durch einen anderen Menschen ersetzen? In der Mitte eines großen Raumes liegt er, wir umliegen ihn wie Planten die fleischige Sonne, sich gegenseitig in Gravitation haltend, verbunden durch Schläuche, kontrolliert durch Instrumente und, von außen her, die Ärzte mit ihren allsehenden Augen über Masken. Der Tanz liegender Körper um das zentrale Unbekannte. Vielleicht waren die anderen meine Freunde oder meine Familie? Insgesamt waren wir Geschwister, gekoppelt an den Mutterberg mit Nabelschnüren, die ihn versorgten. Die Parodie einer Mehrlingsgeburt. Wir lagen um ihn, wach in ein paar Augenblicken ohne Ablenkung oder Betäubung. Ich wollte mich aufrichten, umdrehen, sehen. Mein Körper entzog sich mir. Keine Möglichkeit, sich weiter als vielleicht eine handbreit zu erheben, dazu schon alle Kräfte aufbietend. Doch es gelang, unter Schmerzen und Anstrengung. Mein Rücken löste sich von der Bettstatt und ich konnte den Kopf drehen. Dämmerung um mich. Bevor meine Augen in Gewöhnung treten konnten, erschienen bereits Personen, die mich umstellten und mich sanft zurück in die Ruhe geleiteten. Bis heute kann ich meine Vermutung nicht mit Sicherheit bestätigen. Ob andere an ihn gekoppelt waren, weiß ich nicht.

    Wer war er denn? Was fiel ihm ein, meinen Körper für sich in Anspruch zu nehmen? Jemand hat mich gelockt, verführt mit Geld und mich an ihn gekoppelt, mich nachträglich zum siamesischen Zwilling gemacht. Es drehte mir der Gedanke sein Gesicht zu, der sagte: Du mußt ihn loswerden! Wie? Die stillen Momente, ich könnte sie ausnutzen und meinen Haß produzieren und zu ihm hinüber senden. Partikel meiner Verachtung und meines Hasses konnten sich aus meinem Körper durch die Schläuche zu ihm bewegen, sofern man keine Filter gegen Gefühlspartikel installiert hatte. Gibt es solche Dinge? Ich wollte ihn töten, die Maschine verlassen.

    Wenn es andere gab, dann konnte ich sie erkennen, dachte ich und begab mich auf die Suche. Die Wunden der Kanüle, die bei mir seit Monaten nicht abgeheilt waren. Vor allem aber der Blick. Ich hatte diesen fremden Blick
    Nicht, weil es mir gefiel, sondern weil es mich von den Grübeleien abbrachte, hielt ich das Ablenkungsprogramm aufrecht. Kein Nachdenken über das, was mir widerfuhr. Ich fühlte mich in meinem Kopf beobachtet von einer fremden Anwesenheit. Als sei etwas von seinem Geist in mich gedrungen. Als behauste mich ein anderer.
    Der Blick. Ich sah mich von außen her und innen. Ich sah mich an, wie man jemanden ansieht, den man lange nicht gesehen hat und zur Kenntnis nimmt, daß er jetzt einen Bauch oder weniger Haare hat. Aber die Befremdung war eigenartiger: ich nahm es zur Kenntnis, als sei einem ein zweiter Mund gewachsen und als sei das ein Vorkommnis, das gelegentlich passiert. Kontrollierte etwas mein Sprechen? Das Denken war solitär, mein Handeln gemäß den Erwartungen aller. Wir lebten sorgenfrei und im Licht einer gewissen gesellschaftlichen Achtung. Warum das so war und wie wir in diese Achtung gekommen waren, blieb unklar. Die Leute interessierte es auch nicht weiter. Sie nahmen mit Gelassenheit zur Kenntnis, daß wir in diesem Status waren.
    Nur meine Denken ruhte nur in der Zeit, die ich mir verordnete, um dem Wahnsinn zu entgehen. Gelegentlich suchte ich nach Fällen von auftretendem Irrsinn, Menschen, die Selbstmord begangen hatten. Bei unseren Spaziergängen in den Stadtteilen der besseren Gesellschaft, hielt ich Ausschau nach anderen, die auch den Blick haben. Den nach Innen gewandten Blick, mit dem wir uns selbst absuchen nach den Würmern, den Gedanken, den Sekreten, dem Blut und dem anderen.

    Wer von uns beiden war ich? Sein eisiges Blut spürte ich in meinem Körper, keine Gewöhnung möglich. Jeder Pulsschlag drang durch die Schläuche mit einer neuen Welle seines Eisblutes durch mich, schwemmte mich auf, stach schwammig in mir. Was alles durch mich floß, will ich nicht wissen. Ich wollte nur weg.

    Ich wachte wieder auf, traumlos geblieben, aber nicht gelähmt. Ich konnte mich aufrichten und fand mich in einem freundlichen Krankenzimmer. Die Wundmahle sagen mir, daß ich nicht geträumt hatte. Aber da lag nichts in meiner Nähe. Ich war verlassen. Der andere war nicht da.

Inhalte des Mitglieds Mirko Stauch
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