OFFENER BRIEF AN DEN US-BOTSCHAFTER IN LONDONDer Krieg gegen die Augenzeugen - Ärzte, Journalisten und Geistliche werden systematisch zum Schweigen gebracht
Führen die US-Streitkräfte einen doppelten Krieg, gegen das irakische Volk und mittlerweile auch gegen diejenigen, die über die zivilen Opfer berichten? Ja, eindeutig, behauptete Naomi Klein in einem Artikel, der Ende November in der britischen Zeitung The Guardian erschien. Dem prompt folgenden Protest der US-Botschaft in Großbritannien antwortete die kanadische Publizistin in einem Offenen Brief an Botschafter David T. Johnson.
Lieber Mr. Johnson, am 26. November hat Ihr Presseattaché in einem Brief an den Guardian einen Satz aus meiner Kolumne kritisiert, die am gleichen Tag in dieser Zeitung erschienen war. Er lautete: "Im Irak halten sich die US-Streitkräfte und ihre irakischen Helfer nicht mehr damit auf, Angriffe auf zivile Ziele zu verbergen, und sie eliminieren jeden - egal ob Arzt, Journalist oder Geistlicher - der es wagt, die Opfer zu zählen." Die Kritik an mir bezieht sich insbesondere auf das Wort "eliminieren".
Mein Vorwurf sei "unbegründet", und deshalb solle der Guardian ihn zurückziehen oder Fakten präsentieren, die diese "äußerst schwere Beschuldigung" belegen - heißt es. Es kommt sehr selten vor, dass offizielle Vertreter einer US-Botschaft sich in einem fremden Land in die Freiheit der Presse einmischen, und deshalb nahm ich den Brief Ihres Presseattachés sehr ernst. Ich stimme überein, dass die Anschuldigung in der Tat schwerwiegend ist, aber ich beabsichtige nicht, sie zurückzuziehen. Stattdessen präsentiere ich hiermit die Fakten, nach denen Sie gefragt haben.
Die Berichte über Hunderte ziviler Opfer hatten sich herumgesprochen
Im April haben die US-Streitkräfte als Vergeltung für den brutalen Mord an vier "Blackwater"-Angestellten (*) die Stadt Falludscha belagert. Die Operation war ein Fehlschlag, so dass die Stadt bald darauf wieder den Kräften des Widerstands überlassen wurde. Zu diesem Rückzug kam es offensichtlich deshalb, weil die Belagerung Falludschas zu Aufständen im ganzen Land geführt hatte. Die Berichte über Hunderte ziviler Opfer hatten sich herumgesprochen, sie kamen im wesentlichen aus drei Quellen. Erstens von Ärzten: Die Zeitung USA Today schrieb am 11. April, dass "die Daten über die Toten und ihre Namen aus vier größeren Kliniken der Stadt und aus dem Zentralkrankenhaus von Falludscha stammten." Zweitens von arabischen Fernsehjournalisten: Während die Ärzte die Anzahl der Toten nannten, waren es al-Jazeera und al-Arabia, die der Statistik ein menschliches Gesicht gaben. Mit "Unembedded"-Kamerateams hatten sie in Falludscha gedreht. Beide Sender strahlten Bilder aus über verstümmelte Frauen und Kinder, und zwar im gesamten Irak und in der arabischen Welt. Drittens von Geistlichen: Die Berichte über die hohe Zahl ziviler Opfer, die von Journalisten und Ärzten stammten, wurden von prominenten irakischen Geistlichen aufgegriffen. In wütenden Predigten verurteilten sie den Angriff der Amerikaner und riefen die Gläubigen auf, gegen die US-Streitkräfte vorzugehen. So kam es zu jenen Aufständen, die schließlich zum Rückzug zwangen.
Die Verantwortlichen der Vereinigten Staaten dementierten sämtliche Berichte über den Tod Hunderter Zivilisten während der Belagerung im April und versuchten, die Glaubwürdigkeit der verschiedenen Quellen in Frage zu stellen. So sagte beispielsweise ein nicht namentlich genannter höherer Offizier der New York Times, das genannte Zentralkrankenhaus in Falludscha sei ein "Propagandazentrum" gewesen. Am vehementesten allerdings polemisierte man gegen die arabischen Fernsehkanäle. Als Verteidigungsminister Donald Rumsfeld nach den Berichten von al-Jazeera und al-Aarabia zu den zivilen Opfern gefragt wurde, antwortete er: al-Jazeera agiere "bösartig, ungenau und unentschuldbar".
Der schlimmste Angriff auf Mitarbeiter des medizinischen Dienstes
Im November nun haben die US-Streitkräfte Falludscha erneut angegriffen, dieses Mal allerdings gab es eine neue Taktik: Ärzte, Journalisten und Geistliche, die beim letzten Mal die öffentliche Aufmerksamkeit auf die zivilen Opfer gelenkt hatten, wurden eliminiert.
Die erste größere Operation von US-Marines und irakischen Soldaten während des jetzigen Angriffs auf Falludscha waren der Sturm auf das Zentralkrankenhaus und die Festnahme des medizinischen Personals. Anschließend wurde die wichtigste Klinik der Stadt unter militärische Kontrolle gestellt. Die New York Times berichtete, dass "dieses Hospital als frühes Ziel ausgewählt wurde, weil die amerikanischen Militärs glaubten, dass es zuvor die Quelle von Gerüchten über große Verluste gewesen sei". Die Zeitung fügte hinzu, die US-Armee beabsichtige, dieses Mal "ihren eigenen Informationskrieg zu führen und auf diesem Wege eine der potentesten Waffen der Aufständischen zu neutralisieren". Die Los Angeles Times zitierte einen Arzt, der darüber sprach, dass die Soldaten im Krankenhaus "die Handys beschlagnahmten", um jede Verbindung der Ärzte nach draußen zu verhindern.
Doch das war nicht der schlimmste Angriff auf Mitarbeiter des medizinischen Dienstes von Falludscha. Zwei Tage später wurden sowohl eine Notklinik als auch ein benachbartes Medikamentendepot bombardiert und zerstört. Dr. Sami al-Jumaili, ein Arzt dieser Klinik, teilte mit, dass 15 Ärzte, vier Krankenschwestern und 35 Patienten bei diesem Angriff ums Leben kamen. In der Los Angeles Times war außerdem zu lesen, dass der Verwaltungschef des Zentralkrankenhauses von Falludscha "einem US-General mitgeteilt hatte, wo sich diese Notklinik befindet", bevor sie gezielt attackiert wurde.
Ob zufällig oder gezielt zerstört, der Effekt ist derselbe: Viele Ärzte aus der Kriegszone in Falludscha wurden eliminiert. Am 14. November sagte Dr. Jumaili dem Blatt Independent: "Es gibt in Falludscha keinen einzigen Chirurgen mehr". Bei den Kampfhandlungen in Mossul wurde ähnlich verfahren: Als die amerikanischen Soldaten und irakischen Nationalgardisten in die Stadt eindrangen, übernahmen sie sofort die Kontrolle des al Zaharawi-Hospitals.
Die Bilder, die wir im November über die Schlacht um Falludscha gesehen haben, kamen fast ausschließlich von Reportern, die US-Truppen begleiteten. Arabische Journalisten, die im April aus der Perspektive der Zivilbevölkerung über die Belagerung berichtet hatten, waren im November nahezu ausgeschlossen. Al-Jazeera hatte vor Ort keine Kamerateams mehr, weil man dem Sender die Arbeitserlaubnis für den Irak entzogen hatte. Al-Arabia war zwar noch mit dem Reporter Abdel Kader al-Saadi in Falludscha vertreten, doch nahmen ihn die US-Streitkräfte am 11. November fest und hielten ihn während des Sturms auf die Stadt in Gewahrsam. Nicht das erste Mal, dass Journalisten im Irak einer solchen Einschüchterung ausgesetzt waren.
Als die US-Armee Anfang April 2003 nach Bagdad vordrang, bedrängte das US-Oberkommando alle "Unembedded"-Journalisten, die Stadt zu verlassen. Einige blieben trotzdem, mindestens drei haben das mit ihrem Leben bezahlt. Am 8. April bombardierte die US-Luftwaffe das al-Jazeera-Büro und tötete den Reporter Tareq Ayyoub. Al-Jazeera kann eindeutig dokumentieren, dass der Sender die Lagekoordinaten seines Büros vorher an die US-Streitkräfte gegeben hatte.
Am gleichen Tag feuerte ein US-Panzer auf das Hotel Palestine und tötete José Couso, Mitarbeiter des spanischen Fernsehsenders Telecinco, und den Reuters-Journalisten Taras Protsiuk. Mittlerweile müssen drei US-Soldaten mit einer Anklage von Cousos Familie rechnen, die erklärt hat, den US-Streitkräften sei bekannt gewesen, dass im Hotel Palestine Journalisten arbeiteten - man müsse daher von einem Kriegsverbrechen sprechen.
Die USA und ihre Mitläufer führen im Augenblick zwei Kriege im Irak
Genauso wie Ärzte und Journalisten gezielt beschossen worden sind, so traf es auch viele Geistliche, die sich energisch gegen das Töten in Falludscha gewehrt hatten. Am 11. November wurde Sheik Mahdi al-Sumaidaei, der oberste Repräsentant einer islamischen Vereinigung, inhaftiert. Associated Press berichtet, dass "Mahdi al-Sumaidaei die sunnitische Minderheit des Landes aufgerufen hatte, eine Kampagne des zivilen Ungehorsams zu beginnen, falls die irakische Regierung den Angriff auf Falludscha nicht beendet." Am 19. November schreibt wiederum Associated Press, dass amerikanische und irakische Soldaten mit der sunnitischen Moschee Abu Hanifa in Aadhamiya ein bedeutendes Gebäude stürmten, dabei drei Menschen töteten und 40 festnahmen, darunter den Hauptimam - auch er ein Gegner der Belagerung Falludschas. Am selben Tag berichtete Fox News, dass "US-Streitkräfte eine sunnitische Moschee in Quaim, nahe der syrischen Grenze, beschossen." Der Bericht beschreibt die anschließenden Festnahmen als "Vergeltung für den Widerstand gegen die Falludscha-Offensive". Zwei schiitische Geistliche mit engen Beziehungen zu dem Prediger Muqtada al-Sadr sind in den vergangenen Wochen ebenfalls verhaftet worden. Laut Associated Press "hatten sich beide gegen den Angriff auf Falludscha ausgesprochen".
"Wir zählen keine Leichen", sagte einst General Tommy Franks, der Oberkommandierende des US-Korps, während des Angriffs auf den Irak im März/April 2003 . Die Frage aber bleibt: Was passiert jenen Menschen, die darauf bestehen, dass Opfer gezählt werden, den Ärzten, die Sterbeurkunden ausstellen müssen, den Journalisten, die Verluste dokumentieren, den Geistlichen, die Opfer beklagen? Im Irak ist mittlerweile nicht zu übersehen, dass die Stimmen dieser Menschen systematisch und auf verschiedene Weise zum Schweigen gebracht werden sollen: mit Massendeportationen, mit Überfällen auf Krankenhäuser, mit dem Verbannen von Medien und mit offenen wie verdeckten militärischen Operationen.
Sehr geehrter Herr Botschafter, ich glaube, dass Ihre Regierung und Ihre irakischen Mitläufer im Augenblick zwei Kriege im Irak führen. Der eine Krieg wendet sich gegen das irakische Volk und hat mittlerweile schätzungsweise 100.000 Opfer gefordert. Der andere Krieg wendet sich gegen die Augenzeugen.
Ich glaube, dieser Brief muss nicht weiter kommentiert werden. Auch Blair wehrt sich seit langem gegen die Erfassung der getöteten Iraker. Sie werden einfach in Massengräbern verscharrt.